Chindogu – Machtübernahme in Sachsen!

Meine Freundin ist Fan der japanischen Kultur. Im Internet schauen wir uns jeden Morgen nach dem Frühstück Bilder von Chindogus an. Keine Sorge: Bis vor einem Monat wusste auch ich noch nicht, was Chindogus sind. Begriffserklärung Wikipedia:

Das Chindōgu (japanisch [t͜ɕindoːɡɯ̞̈], wörtlich seltsames Gerät) ist eine humoristische Abart einer Erfindung und zugleich eine Art Witz. Es löst ein tatsächliches Problem auf besonders kreative Weise, während sein tatsächlicher Einsatz mehr Probleme verursachen als lösen würde. Erfinder der Chindogu-Idee war Kenji Kawakami. Chindōgus müssen nicht unbedingt funktionstüchtig sein.

Als Schamane interessiert mich das natürlich, als Schamane interessieren mich Dinge, die echte Weltprobleme auf besonders kreative und witzige Weise zu lösen versuchen, die dabei aber nicht unbedingt immer funktionstüchtig sind. Als Schamane bin ich derzeit selber intensiv auf der Suche nach kreativen Chindogu-Lösungen für die folgenden drei Weltprobleme: erstens: Klimawandel, zweitens: um sich greifende allgemeine Idiotie und drittens: Provinz-Faschismus

Apropos Lösungsversuche für Weltprobleme: Meine Freundin und ich reisen seit einigen Wochen jeden Sonntag irgendwohin ins sächsische Hinterland nach Colditz, Waldheim, Borna oder Glauchau und demonstrieren dort im Auftrag der Connewitzer Antifa. Mit dem 49 Euro-Ticket, und natürlich von der Antifa bezahlt.

Nach den Demos schlendern wir dann dort immer noch ein, zwei Stunden lang rum in den jeweiligen Kleinstädten – zum Beispiel über die meist parallel stattfindenden Flohmärkte auf den zugigen Parkplätzen der jeweiligen Innenstädte.  – Und was wir dort suchen, wissen wir meist selber nicht, wir tun jedenfalls unser Bestes, um mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Mit jenen Einheimischen, die ja schon ganz demnächst, spätestens aber nach der Wahl am 1. September, die Macht hier in diesem Land ganz und gar übernehmen werden – mit ihren inzwischen mehrheitsfähigen Prepper-Rucksäcken aus NVA-Beständen, die sie auf diesen Flohmärkten hier verkaufen, oder mit ihren Chemtrail-Defense-Aluhüten fresh made in China, oder mit ihren vergilbten Landser-Heften und Compact-Magazinen, oder mit ihren Retro-Aufnähern von DDR-Fahnen oder Thälmannpionierabzeichen oder mit ihren hunderten AFD-Fahnen in allen Quadratmetergrößen drapiert auf ihren meterlangen Flohmarkt-Tapeziertischen.

Letztes Wochenende sind wir also mal wieder zum Demonstrieren nach Grimma oder Döbeln oder Zwickau gejettet und danach wie immer auf dem örtlichen Flohmarkt gelaufen. Und plötzlich sehe ich es, dieses krass rot & metallic leuchtende ultimative Chindogu aus DDR-Produktion! – Das Chindogu ragt aus einer der Wühlkisten, die ein stämmiger Endfünziger vor seinem zehn Meter langen Verkaufs-Klapptisch abgestellt hat. Der Endfünziger trägt eine Nato-Kampftarnhose und eine NVA-Felddienstuniformwattejacke und dazu auf dem Kopf ein Basecap, auf dem „Hier kommt Jens!“ steht.

Ich nähere mich langsam Hier kommt Jens-Jens und seiner Wühlkiste und dann ziehe ich es ganz vorsichtig heraus. – Das Chindogu ist sauschwer. Es hat in sich offenbar einen Motor und an sich ganz viele verschiedene Schwungscheiben, Düsen und Propeller. Und alles an ihm lässt sich drehen und bewegen.

„Was ist n das?“ frage ich den Hier kommt Jens-Jens.

„Na, das is so‘n Dingens“, sagt Jens.

„Und was kann man so machen mit diesem Dingens?“

„– Mit dem kann man so bestimmte Dingens-Sachen machen eben“, sagt Jens – „Tommy, kannste mal rüber kommen, hier fragt eener, was man mit diesem Dingens da so machen kannst. Du hast doch da mehr Ahnung mit Technik und so.“

„Klaro Jens, komm gleich“ schallt es von drei Verkaufsständen weiter. und dann kommt Tommy zu uns rübergestapft. Und Tommy ist ebenfalls Ende 50, und den Runen-Tätowierungen auf seinen nackten Unterarmen zufolge hat er schon ein paar krasse Sachen im Leben hinter sich, und er will auch, dass alle das gleich auf den ersten Blick sehen, sogar im Februar und bei nur 2 Grad plus und feuchtem Bodennebel. Und Tommy nimmt mir das Chindogu also fachmännisch aus der Hand und beäugt es: „Na, das ist doch ganz klar: das ist der Antriebsbolzen von ner Messerschmidt Me 163 Baujahr 1942; Feindeinsatz in der Luftschlacht über England, über Kreta und in Stalingrad.“

„So, so“, murmele ich, und mir ist wirklich nicht ganz wohl zumute inzwischen – wegen Tommy oder wegen des Chindogu ist mir nicht ganz klar.

„So, so“ murmelt auch meine Freundin jetzt, nimmt Tommy das Chindogu aus der Hand, inspiziert es von allen Seiten und sagt, „Aber das mit der Messerschmidt kann irgendwie nicht ganz hinkommen. Hier unten steht ganz klein VEB ELMO Hartha drauf auf dem Gerät.“

„Ach so, hm, ja, hätsch ja glei sehen können. – Hej Sandro, du kommst doch aus Hartha. Wir haben hier so’n Dingens, so’n elektrisches DDR-Dingens, das wir nicht so direkt 100 Prozent zuordnen können, kannste mal kurz rüberkommen.“

Und jetzt kommt also auch Sandro noch rüber vom anderen Ende des Marktes und ihm folgen gleich  ein paar weitere Einheimische. Und Sandro nimmt das Chindogu und schaut sich alles ganz intensiv und fachmännisch von allen Seiten an und dann sagt er:

„Na das ist natürlich so‘n ähm so‘n ähm Dingens aus‘m VEB ELMO bei uns aus Hartha“, sagt er schließlich mit unverhohlenem Stolz in der Stimme.

„Na das wissen wir ooch schon, Sandro,  das mit’m VEB Elmo! – Kannste nicht ma deine Mutter anrufen, die hat doch da mal gearbeitet, in dem Elmo-Betrieb, oder?“

Und Sandro nickt und holt sein Telefon raus und ruft seine Mutter an, aber die ist gerade nicht zu Hause und Sandro spricht auf den AB: „Du Mutti, wir haben hier so’n Dingens hier von dein‘m früheren Betrieb, ruf doch mal zurück, is wichtchsch!“

Inzwischen kommt Melanie vom Nachbarstand rübergeschlendert, auf ihren taillierten Blaumann-Wattejacken trägt sie ein selbstgesticktes DDR-Emblem. „Sandro, gib mir das mal – dieses Dingens da!“ Und auch Melanie inspiziert jetzt das Gerät von allen Seiten: „Also wenn Ihr mich fragt: mein Opa aus Waldheim, der hatte auch mal so eins, genau so eins, wie das hier. Da war der ganz stolz drauf, das war der Prototyp des Kolbenrückzugssicherheitsmotors für Havariefälle aus dem ersten DDR-Atomkraftwerkes in Rheinsberg, gebaut 1966, hat er mir immer erzählt, wenn ich ihn als Kind mal besucht habe, weiß ich noch wie heute, und er hätte es damals einfach mitgehen lassen beim Bau des AKW als Andenken, weil er es so formschön fand.“

Inzwischen ist auch Rita dazugekommen und Rita sagt, dass das alles Quatsch sei und sie hätte beim VEB Stern Radio in Rochlitz gearbeitet und sie wisse ganz genau, dass dieses Ding hier die Sendersuchlauf-Vorrichtung vom legendären Radio Recorder Stern 1000 gewesen sei, die in hohen 100er Stückzahlen monatlich vom VEB Elmo Hartha nach Rochlitz geliefert worden wären und von ihr höchstpersönlich 1981-1986 in den Sternrecorder 1000 einbaut worden seien damals.

„Aber Rita, ist das nicht ‘n bisschen schwer – so als Bauteil für’n Radiorecorder, meine ich“, mischt sich aber jetzt Nancy ein, die Ritas Tochter oder Schwiegertochter zu sein scheint. „Und hast du nicht immer gesagt, du hättest in den 80ern auf der Rochlitzer Kolchose im Kuhstall gearbeitet?“ 

Immer mehr Leute bilden jetzt eine wild diskutierende Menschentraube rund um das wundersame DDR-Chindogu ohne Funktionsbeschreibung, das nun immer weiter von Hand zu Hand wandert. Inzwischen ist auch Jochen dazugestoßen, Jochen trägt eine getönte Brille und alle auf dem Flohmarkt hier nennen ihn ehrfürchtig den „Professor“, sagt Jochen, um sich mir und meiner Freundin vorzustellen, aber eigentlich sieht er weniger wie ein Professor aus, sondern eher wie ein Zuhälter aus der Provinz, denken wir. Und er hätte früher mal für Manfred von Ardenne persönlich gearbeitet, sagt Jochen und später sei er von dort aus zur DDR-Mikroelektronik-Fabrik nach Silicon Sömmerda delegiert worden. Und auch Jochen lässt sich nun feierlich das Chindogu zur Begutachtung reichen und beäugt es ebenfalls ganz aufmerksam. Und dann sagt er mit leicht pathetischer Stimme: „Das ist ganz eindeutig die erste digitale Informations-Einspritzdüse für das DDR-eigene Internet, gebaut 1979 mit neuester sächsisch-thüringischer Technologie. Und später wurde dann damit zusammen mit anderen Bauteilen aus Sömmerda die erste DDR-Online-Dating-Plattform Robotron 3000 betrieben, die auch voll funktionierte, wodurch sich auch niemand in der DDR allein gelassen fühlen musste, beziehungsanbahnungstechnisch gesehen zumindest, was die Geburtsstatistiken in der DDR ab 1980 signifikant in die Höhe schnellen ließ. Und er könne da noch so einiges erzählen, was da in der DDR viel besser funktionierte als heute mit diesem neumodischen Social-Media-Tinder-Tinnef und so.“ Und Bernd pflichtet ihm bei und sagt: „Ja!“ – und dass damals alles, wirklich alles seinen Sinn und seine tiefere Bedeutung und seine Ordnung gehabt hätte – damals in der DDR, und dass er selber damals bei der örtlichen Feuerwehr angestellt gewesen wäre und dass dieses Dingens da allerdings in Wahrheit nichts mit dem DDR-Internet zu tun gehabt hätte, das wisse er genau, sondern, dass dieses Dingens ein wichtiges Funktionsteil der Feuerwehr-Sirene am Feuerwehr-Einsatz- und Löschfahrfahrzeug Robur 500 gewesen sei. Und dass er diese Sirene selbst jedes Mal händisch bedient hätte, wenn sie damals zum Einsatz ausgerückt und mit 100 Sachen durch die örtliche Innenstadt gebrettert seien, dass die Passanten nur so beiseite sprangen. „Mann, waren das Zeiten!“

Aber meine Freundin unterbricht Bernd etwas unvermittelt: „Ich glaube ja, bei diesem Gerät handelt es sich eher um ein Chindogu.“ Sie nimmt das Chindogu in ihre Hände und hält es hoch über sich in die Luft und dann erklärt sie den stumm verblüfften Bernds und Jochens und Ritas und Melanis und Jens‘ und Tommys und Nancys und allen anderen Leuten um uns rum auf diesem Flohmarkt in dieser kleinen von der AFD überschwemmten sächsischen Provinzstadt im Hinterland, was ein Chindogu ist und sie liest den entsprechenden Wikipedia-Eintrag laut aus ihrem Handy vor und dann noch die berühmten 10 Regeln, die der legendäre Chindogu-Erfinder Kenji Kawakami als Vorgaben für echte Chindogus festgelegt hat:

          10 Regeln für Chindōgus

1.    Ein Chindōgu muss eigentlich nutzlos sein.

2.     Ein Chindōgu muss es wirklich geben.

3.    Ein Chindōgu muss den Geist der Anarchie in sich tragen.

4.    Chindōgus sind Werkzeuge für das tägliche Leben.

5.    Ein Chindōgu ist nicht für den Verkauf bestimmt.

6.    Ein Chindōgu darf nicht nur aus einer Laune heraus entstehen.

7.    Chindōgus sind keine Propaganda, sondern unschuldig.

 8.   Chindōgus sind nie tabu.

 9.   Ein Chindōgu darf nicht patentiert werden.

10.    Ein Chindōgu ist immer vorurteilsfrei.

Und alle Menschen um uns rum sind plötzlich ganz still und betroffen und in sich gekehrt. Und irgendwann hören wir Jens sagen; „Ja so war es in der DDR: Alles bestand damals nur aus Chindogus: Alles hatte eine Funktion, aber es hatte gleichzeitig auch keine Funktion! Alle Dinge waren irgendwie angenehm nutzlos und gleichzeitig total vorurteilsfrei und ohne jeden Kommerz. Und man konnte auch total vorurteilsfrei über alle diese Dinge reden und ins Gespräch kommen damals! Und mit jedem! So wie jetzt!“ 

Und alle nicken bedächtig und lächeln, sogar Jochen und Messerschmitt-Tommy nicken und lächeln. Denn offenbar kann sich irgendwo jeder von ihnen wiederfinden in diesem Chindogu-Manifest, denke ich, und dass Chindogus offenbar diese Metafunktion hätten in der Welt – oder zumindest in der sächsischen Provinzwelt.

„Und weil Chindogus vorurteilsfrei sind“, höre ich jetzt meine Freundin zum letzten Mal das Wort ergreifen, „und weil Chindogus auch keine Propaganda sind und auch kein Kommerz sind, würden echte Chindogus auch niemals AFD wählen, kapiert, Freunde?“ höre ich meine Freundin sagen. Und mir wird etwas mulmig, als sie das sagt, und ich will ihr signalisieren, dass wir jetzt den Bogen vermutlich etwas überspannt haben könnten und dass wir uns mal schleunigst auf den Weg Richtung Bahnhof oder Bushaltestelle machen sollten, um nicht doch noch irgendwas auf die Mütze zu bekommen. Aber die Einheimischen lächeln immer noch und nicken sogar ein bisschen vor sich hin.

Und später auf der Rückfahrt in der Regionalbahn, während das Tageslicht schwindet, halte ich das erste auf einem Provinz-Flohmarkt gefundene DDR-Chindogu meines Lebens an mein Herz gepresst. Und meine Freundin sitzt neben mir, und wir träumen im Auftrag der Connewitzer Antifa zusammen von der Chindogu-Machtübernahme in Sachsen.

KURT MONDAUGEN

Fotocredit: Roland Quester

Wie ich doch noch sächsischer Polizeiausbilder wurde…

Das Telefon klingelt: „Schuster hier, Innenminister! – Spreche ich mit Kurt Mondaugen?“

„Ja-aa?“

„Sie haben da doch diese Lesebühne Connewitzer Kreuz“

„Ne-ee!“ sage ich: „Schkeuditzer Kreuz, ich bin bei der Lesebühne Schkeuditzer Kreuz, wenn Sie die meinen.“

„Egal Schkeuditzer Kreuz oder Connewitzer Kreuz – jedenfalls treten Sie da doch regelmäßig irgendwo auf in diesem Connewitz mit Ihrer Lesebühne?!“

„Ja-aa – einmal im Monat im Werk 2.“

„Sag ich doch, Herr Mondaugen, ich will ganz ehrlich zu Ihnen sein: Wir haben ein Problem!“

„So, so“, sage ich.

„Ja“ sagt der Innenminister, „also ich habe mir jetzt in Rücksprache mit dem Ministerpräsidenten Folgendes überlegt: Das mit unserer sächsischen Polizei geht jetzt nicht mehr so weiter. Eine Evaluations-Studie zu unserer Polizeischüler-Werbekampagne Verdächtig gute Jobs hat ergeben: Aktuell kommen sämtliche Bewerber für unsere sächsischen Polizeischulen einzig und allein aus den national befreiten Zonen des Freistaats: also aus dem Landkreis Bautzen, der Sächsischen Schweiz, Freital, Döbeln, Wurzen, Mockau usw. – Sie verstehen, was ich meine. Und die Evaluation hat auch ergeben, dass fast alle Polizeischulbewerber unter einer pathologischen autoritären Zwangsstörung leiden. Und das äußert sich zum Beispiel darin, dass man ihnen am ersten Tag beim Einrücken in die Polizeikaserne immer erst mühsam erklären muss, dass das Grußzeichen der sächsischen Polizei eben nicht der Hitlergruß ist, und dass man als Antwort auf eine Anweisung eines Vorgesetzten auch nicht: »Jawohl, Herr Obersturmbannführer!« brüllen muss, so wie sie es von zu Hause her gewöhnt sind, all diese Polizeischulbewerber aus Oschatz, Hinterhermsdorf, Colditz und Grimma.“

„So, so“, sage ich

„Ja genau“, sagt der Innenminister, „also wir, der MP und ich, haben uns jetzt überlegt, die Polizei in Sachsen sollte in Zukunft vielleicht doch ein etwas breiteres Bevölkerungssegment repräsentieren als nur die üblichen Nazis, Sexisten und Rassisten – einfach auch deshalb, damit unsere Landespolizei in Zukunft nicht mehr so eine negative Projektionsfläche anbietet für diese ganzen geifernden links-grünen überregionalen Medien und für die Connewitzer Antifa am besten auch nicht. Die Polizei des Freistaates soll vielmehr die erste deutsche Landespolizei werden, die von der Antonio-Amadeu-Stiftung eines Tages – sagen wir mal so in zwei, drei Jahren – den neu geschaffenen All-Cops-Are-Beautiful-Demokratie-Preis verliehen bekommt. Und damit uns dies gelingt, müssen wir eben ein bisschen diverser und inklusiver aufgestellt sein, was unser Personal angeht. – Konkret heißt das: Wir brauchen für unsere sächsische Polizei ab jetzt und in Zukunft wenigstens ein paar Handvoll Türken und Juden, ein paar Syrer, Vietnamesen und Afghanen und unbedingt auch Nigerianer und Sudanesen – je schwärzer desto besser – und außerdem natürlich auch noch ein paar Hardcore-Antifa-sozialisierte Kids aus Connewitz. – Ich meine solche, die nach ihrem Schulabschluss oder Studienabbruch voll Bock haben, mal so richtig tough aus ihrer Bubble rauszukommen. – Und da kommen jetzt Sie ins Spiel, Herr Mondaugen!

„Da komme ich ins Spiel?“

„Ja genau Sie, denn natürlich braucht es, um neue Bewerberzielgruppen für die sächsische Polizei zu erschließen, auch eine grundsätzlich neue Art der Polizeiausbildung. Die Ausbildung muss in Zukunft so ausgerichtet sein, dass sie auch für ein diverseres Klientel als bisher attraktiv ist. Und Sie, Herr Mondaugen, haben da doch Ihre Lesebühnen-Crew, die regelmäßig in Connewitz auftritt – und da kommen ja dann sicher auch immer mal irgendwelche Antifas aus dem Kiez als Besucher zu ihrer Lesebühne. Die feiern das doch sicher voll ab, wenn Sie auf der Bühne mal wieder irgendwelche krass ironischen Sprüche über die sächsische Polizei raushauen oder sogar über mich als Innenminister. – Nee! – Sie brauchen da jetzt gar nicht widersprechen: Weil: ich hab‘ mir das heute früh alles mal ausgiebig angeschaut auf den Videos der Überwachungskameras, die wir da überall im Werk 2 angebracht haben under Cover, seit wir mit der Gründung der Soko Linx und dem Fall LINA E. endlich die staatlichen Durchgriffsrechte dafür hatten. – Aber das tut jetzt gerade mal nichts zur Sache hier. – Jedenfalls hab ich mir die vergangenen drei Folgen Ihrer Lesebühne angeschaut und ich wollte Sie fragen, ob Sie sich nicht vorstellen könnten, an unserer neu aufzubauenden diversifizierten alternativen Polizeischule in Leipzig Connewitz Polizeiausbilder zu werden und ob Sie nicht Ihre Kolleg*innen von der Lesebühne auch noch gleich als Personal für die neue Schule gewinnen könnten – wenigstens halbtags und wenn Sie wollen entfristet mit Beamtenzulage oder als KSK-Job, ganz wie Sie und Ihre Kolleg*innen das wünschen. Überlegen Sie sich das echt: Verdächtig gute Jobs bei uns! – Sie wissen ja!“

Wow, denke ich, habe ich mich da eben verhört oder hat Armin Schuster von der schwärzesten deutschen CDU tatsächlich eben gerade zweimal „Kolleg*innen“ gegendert, um sich bei mir einzuschleimen oder um zu zeigen, welchen krassen Sinneswandel er und sein Ministerium und seine Partei insgesamt gerade unerwartet vollzogen haben?  Oder ist Schuster einfach nur auf Koks? – Ich bin ein bisschen angewidert und sprachlos.

Wir sind doch alle Antifa! – Herr Mondaugen“, schiebt Schuster jetzt noch säuselnd hinterher, „– also, wenn Sie ein bisschen Bedenkzeit brauchen, das verstehe ich, und das wäre gar kein Problem.“

Ich bin immer noch perplex.

„Herr Mondaugen?“

Ich räuspere mich, aber mein Kopf ist wie leer…

„Also abgemacht“, höre ich mich plötzlich sagen.

„Abgemacht was?“

„Abgemacht, dass ich bei meinen Kolleg*innen mal nachfrage!“

„Danke Herr Mondaugen, ganz herzlichen Dank! Ich bin so froh, dass Sie das jetzt hier für mich tun! Das werde ich Ihnen nie vergessen! Und die Staatsregierung auch nicht! Ehrlich! Übrigens: Falls Sie nicht zusagen: Dieses Gespräch hier hat es nie gegeben, und wir werden Sie in diesem Fall natürlich alle vom Verfassungsschutz beobachten lassen in Zukunft. 

Zoom und Schnitt:

Sechs Monate später: Der sächsische Innenminister hat in einem beispiellos beschleunigten politischen und administrativen Schnellverfahren sämtliche bisher aktiven sächsischen Polizeischulen kurzfristig wegen der permanenten Nazivorfälle schließen lassen. Und gestern, am 2. Juni 2024 ist Armin Schuster dann zusammen mit dem Ministerpräsidenten das erste Mal in seinem Leben nach Connewitz gefahren. Und Kretschmer und Schuster haben sich dort tatsächlich gemeinsam auf einen von den Einwohner*innen bejubelten Rundgang durch den linksradikalen Stadtteil begeben – inklusive Bad in der Menge Ecke Bornaische Straße/Stockartstraße. Und anschließend haben sie dann tatsächlich mit einem Festakt die neue diversifizierte Polizeischule in Connewitz auf dem Gelände der ehemaligen Polizeiwache Richard-Lehmann-Straße eingeweiht.

Und heute ist nun der 3. Juni 2024, zufällig der erste Jahrestag des Tag X, an dem wirklich die ersten jungen Polizeirekrut*innen aus ganz Sachsen mit Mannschaftswagen auf dem Hof der neuen Polizeischule Connewitz eintreffen. Aus den Sixpacks springen junge und nicht mehr ganz so junge Punks, Flintas, People of Colour, aber auch ein paar verschüchterte, offenbar irregegangene Provinz-Faschos. Dazu dröhnt fett aus den Lautsprechern neben der kleinen Bühne im Innenhof: „Der Mariannenplatz war blau, soviel Bullen waren da…“ – Es ist Lesebühnen-Urgestein und Soundmaster Hauke von Grimm, der am DJ-Pult steht und mit leichtem Wippen in den Knien gerade den ultimativen Polizeirekrut*innen-Begrüßung-Track aufgelegt hat: den guten alten „Rauchhaus“-Song von Ton Steine Scherben: „Und Mensch Meier musste heulen, das war wohl das Tränengas. Und er fragte irgendeinen: Sag mal, ist hier heut ’n Fest? – So was ähnliches sagte einer, die Richard-Lehmann-Wache wird besetzt“

Und direkt neben Hauke am Mikrofon steht jetzt Franziska Wilhelm, die neue Polizeischuldirektorin. Sie zündet, passend zur Musik, einfach mal zwei krasse Bengalos und ruft über den ausfadenden Scherben-Song hinweg den neuen Polizeischüler*innen euphorisch zu: „Herzlich willkommen, liebes Publikum – ähem – liebe Polizeianwärter*innen. Mein Name ist Franziska Wilhelm, ich bin wie alle meine Kolleg*innen im engeren Ausbilder*innen-Team Mitglied der Lesebühne Schkeuditzer Kreuz. Ich weiß ehrlich gesagt auch nicht, warum ausgerechnet ich zur Schuldirektorin bestimmt wurde, vermutlich weil ich am seriösesten wirke. Neben meiner Leitungsfunktion mache ich die Öffentlichkeitsarbeit und das Krisenmanagement für die Schule. Außerdem kann man bei mir immer dienstagsnachmittags Vorlesungen über die Vorzüge von Carsharing bei der Polizei hören und warum man Wasserwerfer nur bei der Feuerwehr, nicht aber auf Demos einsetzen darf. – So viel zu mir. – Und hier neben mir steht, wie Ihr alle schon gehört habt, Reverent DJ Hauke von Grimm. Er ist an unserer Schule für die polizeikritische Musikausbildung zuständig, ebenso wie für das Fach Episches Rettungsschwimmen.“

Mitten in ihre Worte hinein, dreht DJ Hauke seine Musikanlage auf volle Lautstärke und über den ganzen Hof, ja über ganz Connewitz hinweg schallt der berühmte Track „Fuck Tha Police“ von N.W.A.  Als der letzte Ton verklungen ist, gibt es tosenden Applaus durch den größten Teil des Publikums. Lediglich ein kleinerer Teil der Polizeischüler*innen, blickt sich noch schwerer irritiert als vorhin um und muss gegen ein permanentes Zucken im rechten Arm ankämpfen.

„Und damit komme ich zu meinen drei anderen Lesebühnen-Kolleg*innen. Ich bitte auf die Bühne: Marsha Richarz, Julius Fischer und Kurt Mondaugen.“

Die Menge applaudiert, und als wir oben stehen, fährt Franzi mit ihrer Vorstellungsrunde fort: „Marsha Richarz bietet an unserer neuen Polizeischule montags bis freitags antifaschistische Poetry-Slam-Workshops an, lehrt Bühnenpräsenz, Selbstwahrnehmung und das Abtrainieren von Sexismus, Rassismus, Klassismus und Behindertenfeindlichkeit sowie klerikalem Extremismus. Außerdem kann man bei ihr lernen, wie man als Polizei am besten mit tobenden Kindergruppen umgeht. Bei Julius Fischer wiederum – einen kleinen Applaus bitte“, fährt Franzi fort, „- bei Julius Fischer kann man Gitarre lernen und witzige Lieder und Fishing for Compliments, etwas man als Polizei wirklich als Grund-Skills braucht in diesem Land. Außerdem ist es bei Julius möglich, immer donnerstags das Fach „Jovialer Umgang mit Dynamo-Fans“ zu belegen, und ansonsten lehrt er, wozu er gerade Lust hat. – Und dort drüben“, Franziska wendet sich jetzt mir zu, „dort steht Kurt Mondaugen – unsere polizeiausbildnerische Allzweckwaffe, wenn ich so sagen darf: Kurt Mondaugen wird bei uns Vorlesungen halten über: allgemeine Polizeiphilosophie und skandinavische Polizeikultur, über die krasse Idee menschlicher Grundrechte, über die Fähigkeit zum Perspektivwechsel und Anarchismus, über die Psychopathologie des Autoritären Zwangscharakters und über Die Furcht vor der Freiheit von Erich Fromm. Nebenher lehrt Kurt Mondaugen auch noch Schamanistisches Deeskalationstraining, Polizei-Awareness und Mental Health mit Salbei-Räucherkerzen statt Tränengas. – So, das ist die Lesebühne Schkeuditzer Kreuz – das Kernteam des Lehrkörpers. Für spezielle Themen laden wir aber immer mal wieder auch Gastdozenten ein: von Copwatch, von Leipzig nimmt Platz, von Fridays for Future und der Letzten Generation und von den Omas gegen rechts. Diese bieten kleine Workshops und Trainings an u.a. zu den Themen Abolitionismus, Klimagerechtigkeit, 1,5-Grad-Ziel und Stolpersteine putzen.“

Damit hat Franziska Wilhelm ihre Vorstellung des Lehrkörpers beendet. Der größere Teil der neuen Polizeischüler*innen applaudiert erwartungsvoll, der andere Teil jedoch blickt nun vollends verwirrt in die Runde und muss spätestens bei den Worten „Stolpersteine putzen“ gegen ein permanentes Hochschnellen des rechten Arms zum Deutschen Gruß ankämpfen

„Ach ja“, Franziska Wilhelm räuspert sich, „hätt‘ ich beinahe vergessen. – Bevor es losgeht: Noch ein letzter Hinweis an die Polizeischüler*innen von den Freien Kameradschaften aus Döbeln, Wurzen, Bautzen, Plauen, Stötteritz, der Sächsischen Schweiz usw.: – Wir wissen alle, dass es nicht leicht ist, sich lange inkorporierte Sozialisationsmuster abzugewöhnen. Gehen Sie deshalb heute bitte zuerst einmal in unser polizei-eigenes Tanzstudio in der 2. Etage. Dort bieten die besten Choreografinnen der Leipziger Tanztheater-Szene den Basiskurs „Sich den Hitlergruß abtrainieren – leicht gemacht“ an. – So: Und für alle anderen Schüler*innen empfehle ich: Schnupperkurse nach freier Auswahl. Erkunden Sie Ihre neue Polizeischule – und denkt immer daran: Es warten verdächtig gute Jobs auf Euch, Leute! Hier in Connewitz und überall in Sachsen!“

Zoom und Schnitt:

„Kurt, Kurt, Kurt – Du musst aufwachen“, ich höre die Stimme meiner Exfreundin und Therapeutin Natascha-Lou Salomé. Sie rüttelt wie wild an meiner Schulter. „Kurt, du kannst hier auf der Couch nicht einfach stundenlang rumträumen. Du musst rausgehen und dein Leben ändern und wirklich was tun für Deinen Lebenstraum, ein guter sächsischer Polizeiausbilder zu werden. Und wenn Du Armin Schuster wirklich mal in echt treffen solltest dabei, dann schick‘ ihn unbedingt sofort her zu mir in die therapeutische Praxis. Es ist voll krass, dass ein Mann, mit einer solchen psychischen Disposition, gegen den sogar Angela Merkel vehement persönlich ihr Veto einlegte, als Horst Seehofer ihn 2018 zum Präsidenten des Deutschen Verfassungsschutzes machen wollte, dass ein solcher Mann jetzt stattdessen Innenminister in Sachsen geworden ist.“

Und Schluss!

Ich will das Nicht!

Die folgende Geschichte ist die literarische Schock-Verarbeitung von Erlebnissen und Gedanken des Autors rund um den Leipziger Polizeikessen vom 3. Juni 2023. Teile der im Text beschriebenen Geschehnisse und Äußerungen sind literarisch imaginiert, andere Teile sind wirklich so geschehen und sogar dokumentiert.

1

3. Juni, 15.30 Uhr: Marcel, Christian, Dennis, Patrick, Nico und Tobi sitzen in ihrem Sixpack und rasen im Konvoi mit Blaulicht Richtung Alexis-Schumann-Platz. Marcel ist voll genervt, er wollte dieses Wochenende eigentlich mit seiner Freundin zu einem Helene-Fischer-Konzert nach München, weil die sich das gewünscht hat. Er selber steht ja ehrlich gesagt mehr so auf Rammstein und auch ein ganz klein bisschen auf Freiwild. Aber egal, jetzt ist er also stattdessen an diesem Wochenende mit mehreren tausend anderen Polizisten aus ganz Deutschland hier in diesem verschissenen linksautonomen Leipzig im Einsatz. Bei einer Patrouillenfahrt durch Connewitz gestern Nacht hat ein Pflasterstein die Seitenscheibe ihres Wagens getroffen – genau an der Stelle, wo er selbst saß und genau in Kopfhöhe, aber die Scheibe hat gehalten zum Glück und nur ein paar Risse bekommen.Marcel ist übermüdet und hat echt die Schnauze voll. Und Marcel hat Angst. Über Funk: die Stimme des Hundertschaftsführers: „So Leute und jetzt geht raus und habt Spaß!“ Nico, der neben ihm sitzt und der wirklich ein Freiwild-Fan ist, hat schon den Schlagstock rausgeholt, lässt ihn auf die flache Hand klatschen und grinst: „Heut gibt’s Kesselgulasch! – Ich meine: Zeckengulasch!“

Ich will das nicht!

2

Gedächtnisprotokoll des 16jährigen Johnny K. zum Polizeieinsatz vom 03.06.2023 am Alexis-Schumann-Platz/Leipzig:

„17:00 Uhr: Die Demonstration ist zunächst friedlich, aber der ganze Platz und der gegenüberliegende Park sind polizeilich umstellt. Ich bin in der Mitte der Karl-Liebknecht-Straße. Gegen 17:30 Uhr gibt es einen ersten Ausbruchsversuch von Demonstranten (an dem ich nicht beteiligt bin). Dann einen zweiten Ausbruchsversuchs Richtung Süden (an dem ich auch nicht beteiligt bin). Erste Leute werden zurückgeknüppelt, wenige Leute werfen Steine, die fast alle einige Meter vor den Polizisten auf dem Boden fallen. Die Polizisten gehen mit Knüppeln auf die Menge los, und die meisten Leute, die Steine geworfen haben, rennen in die andere Richtung weg. Ich halte mit anderen Leuten zusammen ein Transparent und mehrere Polizisten schlagen und treten beim Kesseln der Demonstranten um sich. Ich werde zunächst im Magen-Bereich getroffen, und wir weichen alle mit unserem Transparent, immer weiter zurück. Als wir kurz vorm Bürgersteig sind, können wir nicht mehr weiter zurück und schreien laut: „Zurück!“ – woraufhin wir dennoch nicht weiter nach hinten kommen, denn die Menschen hinter uns stehen auch bereits dicht gedrängt. Die Polizisten schlagen währenddessen auf Hände und andere Körperteile ein. Mir wird von einem Polizisten brutal ins Gesicht geschlagen, woraufhin ich bewusstlos werde und auf dem Boden falle.“

Ich will das nicht!

3

3. Juni, 18.15 Uhr: Ein Innenminister läuft nervös durch die Flure im Leipziger Polizei-Lagezentrum, starrt auf die Bildschirme mit den Hubschrauberbildern von der Demo und muss immer wieder an das vertrauliche Gespräch denken, das er vor fünf Tagen mit dem Ministerpräsidenten bei Kaffee und Kuchen in der Dresdener Staatskanzlei geführt hat: Der Ministerpräsident rührte damals nervös mit dem Löffel in seinem Kaffee und schaute abwechselnd immer wieder aus dem Fenster raus auf die vorbeifließende Elbe mit ihren sinkenden Pegelständen und dann wieder auf den Bildschirm vor sich – mit den sinkenden Umfragewerten seiner Partei. Und dann sagte er: „Wir müssen ein Exempel statuieren da in Leipzig am Wochenende. Nur können wir die AFD kaltstellen.“ Der Innenminister blickte ihn fragend an. Der Ministerpräsident zuckte leicht mit den Schultern „So geht eben Politik.“

Ich will das nicht!

4

3. Juni, 20.45 Uhr: Ein Stadtverordneter der CDU steht mit seinen Kindern am Fenster seiner Connewitzer Wohnung. Sie sehen hunderte Polizeiautos mit Blaulicht vorbeifahren, dann zwei Vermummte vorbeilaufen und in der Ferne eine Mülltonne oder eine Barrikade brennen. „Vater was ist das?“ „Das ist der rote Mob, aber keine Angst, wir kriegen die alle!“ Und der Stadtverordnete denkt, dass er mit der Schilderung dieser Szene seine Rede bei der nächsten Stadtratssitzung eröffnen wird. Der Ministerpräsident hat ihm und seinen Fraktionskollegen gestern noch mal per ZOOM aus der Staatskanzlei die Sache mit den Umfragewerten erläutert: „Nur so können wir die AFD kaltstellen, klar? – So geht Politik.“

Ich will das nicht!

5

3. Juni, 21.50 Uhr: Nachdem er heute den ganzen Tag an der Uni ein Blockseminar zum Thema „Demokratie-Theorien“ gegeben hat, kommt der Vater von Johnny nach Hause: Auf dem Festnetz-Anrufbeantworter findet er eine Nachricht von der Notaufnahme der Uniklinik: „Die Polizei hat ihren verletzten 16-jährigen Sohn Johnny hergebracht. Es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Bitte beruhigen Sie sich, aber bitte rufen Sie uns schnell zurück und kommen Sie unbedingt her!“

Und er murmelt: „Fuck!“ Und während er mit dem Rad zur Klinik rast, denkt er daran, dass er noch bevor er heute Morgen losfuhr, Johnny eindringlich gefragt hat, ob er da heute wirklich unbedingt zu dieser Demo hingehen müsse? Und Johnny hatte nur die Augen verdreht und geantwortet: „Weißte doch, Vater: is‘ für die Demokratie!“

Und wie er jetzt den Vorraum der Notaufnahme betritt und vor sich durch die Glastür seinen Sohn Johnny so voll apathisch zusammengesunken und mit geschwollenem rechten Auge zwischen zwei schwer bewaffneten Polizisten sitzen sieht, da zieht es ihm plötzlich die Beine weg, und er muss sich erstmal auf den Boden sinken lassen hier in diesem Vorraum der Notaufnahme. – Denn plötzlich ist die Erinnerung wieder da, wie er selber hier vor 32 Jahren von einem Krankenwagen hergebracht worden war – zwei Stunden nachdem ihn fünf Nazi-Skins in der Straßenbahn Richtung Stötteritz mit Baseballschlägern zusammengeschlagen hatten – einfach deshalb, weil er irgendwie anders oder undeutsch aussah oder zu lange Haare hatte. Und dass man sich Anfang der 90er auf die Polizei so zu hundert Prozent rein gar nicht verlassen konnte und nur das Gesetz der Straße galt damals in den Baseballschlägerjahren, daran erinnert sich Johnnys Vater jetzt auch mit allen Fasern seines Körpers und versucht tief durchzuatmen, um sich wieder in den Griff zu kriegen. Damals nach dem Überfall und nach einer Woche im Krankenhaus hatte er krampfhaft versucht, von Stötteritz weg, nach Connewitz zu ziehen und dort der militanten Antifa beizutreten, weil die Connewitzer Antifa-Leute es damals wirklich geschafft hatten, dass die Nazis sich dort jedenfalls nicht mehr so offen hintrauten zum Ausländer- und Schwulen- und Zecken-Klatschen. Und ein paar Wochen später hatte er tatsächlich ein WG-Zimmer in Connewitz gefunden. Nur das mit der militanten Antifa hatte er dann doch nicht durchgezogen damals, einfach weil er zu feige war für den Straßenkampf. Stattdessen hatte er sich ein Fahrrad als Lebensversicherung besorgt, ist zehn Jahre lang konsequent nie mehr Straßenbahn gefahren und begann, Philosophie zu studieren. – Was man eben so macht als Ersatzhandlung, fällt Johnnys Vater in diesem Moment plötzlich ein, und er atmet noch einmal tief in den Bauch. Dann rafft er sich hoch, öffnet die Glastür und geht mit noch immer zitternden Knien auf die Polizisten zu: „Was ist mit meinem Sohn passiert?“

„ – Dazu können wir Ihnen keine Auskunft geben! Das müssen sie Ihren Sohn selber fragen. Allerdings befindet er sich noch in einer Maßnahme. Deswegen sind wir hier!“ Die Polizisten stehen trotzdem auf und setzen sich ein paar Meter weg, um Johnnys Vater zu seinem Sohn durchzulassen. Und er umarmt Johnny, aber dessen ganzer Körper ist ohne jede Reaktion. Und Johnnys Blick geht ins Leere. Aber irgendwann erzählt er dann doch stockend und mit langen Pausen, wie die Cops ihn beim Kesseln bewusstlos geschlagen hätten, und wie seine Leute ihn dann irgendwie nach hinten zogen und wie er wieder so halb zu sich kam, als sie ihm Wasser einflößten, und wie er dann gigantische Kopfschmerzen kriegte und Ausfälle im Gesichtsfeld hatte und wie sie ihn anschließend gegen einen Rucksack gelehnt zwischen die gekesselten Demonstranten und die Polizei setzten, damit die Polizeisanitäter ihn abholen und sich um ihn kümmern konnten, und wie er da, während er zwischen den Fronten saß, immer wieder zur Seite wegsackte und wie die Polizeisanitäter ihn dann erst nach einer gefühlten Ewigkeit da weggeholt hätten, nur um ihn dann ein paar Meter weiter hinten gleich wieder auf die Erde zu setzen – mit dem Rücken gegen einen Polizeitransporter gelehnt und wie die Polizisten ihn da weiter ein, zwei Stunden sitzen ließen, ohne ihn zu behandeln. Aber irgendwann, weil ständig irgendwelche Journalisten filmten und mehrmals nachfragten, hätten sie es sich doch anders überlegt und einen Sani-Transporter gerufen und der hätte Johnny dann in die Uniklinik gebracht… Johnny atmet tief ein und aus. – Und dass der Arzt hier ihn gerade eben erstuntersucht hätte und dass irgendwas mit seinem Jochbein sei und ein Schädel-Hirn-Trauma sowieso und der Arzt hätte ihm gegen die krassen Kopfschmerzen ein schmerzlinderndes Getränk gegeben und das finge schon an zu wirken… Und dann schweigen Johnny und Johnnys Vater ein paar Minuten, während die Polizisten sich ein paar Stühle weiter angeregt über ihre nächste Beförderungsrunde unterhalten. Bis Johnnys Vater es nicht mehr aushält und zu ihnen rübergeht und sagt, dass er Anzeige erstatten will wegen Körperverletzung im Amt gegen die Polizei. Aber die Polizisten sagen ihm, dass sie nicht zuständig seien, weil sie sich noch im Einsatz befänden und dass er in den nächsten Tagen aufs Revier gehen solle.

Ich will das nicht!

3. Juni, 22.15 Uhr: Die Abenddämmerung liegt mit leicht martialischer Reströte über der Stadt. Der Polizeihubschrauber kreist irgendwo über der Südvorstadt.Lina E. sitzt am Fenster ihrer Connewitzer Wohnung und starrt ins Leere. Ihr ist gerade dieser Juniabend vor 12 Jahren eingefallen: Sie war gerade 16 geworden, als sie bei einem Wochenendbesuch bei einer Freundin in Eisenach in der Nähe des Bahnhofs von zwei Nazis zusammengeschlagen wurde: erst in den Magen, dann auf den Kopf und als sie schon am Boden lag das Ganze weiter mit Fußtritten. Und wie sie anschließend benommen da lag und Blut spuckte und schluchzte, und versuchte, wieder hochzukommen, und wie einer der Nazis noch von Ferne grölte: „Hau endlich ab! Wenn ich dich linke Fotze heute noch mal auf der Straße sehe, hast du wirklich einen Grund zum Heulen!“  Die Anzeige bei der Polizei verlief im Sand. Seitdem gibt es etwas in ihr, das zerbrochen ist. Seitdem glaubt sie nicht mehr an die Polizei. Seitdem glaubt sie in Bezug auf Nazis nur noch an Selbstverteidigung. Sie blickt hinüber zu einer brennenden Mülltonne auf der anderen Straßenseite und denkt, dass das hier alles richtig ist und nur der bewaffnete Kampf zur Ausrottung des Faschismus führt.

Oder sie denkt:

Ich will das eigentlich nicht!

7

3. Juni, 22.30 Uhr: Der Fraktionsführer einer des Rechtsextremen verdächtigen sächsischen Oppositionspartei sitzt mit seinem trinkfesten Schattenkabinett in einem Biergarten in Dresden. Er scrollt triumphierend die Twitter-Meldungen auf seinem Handy durch, dann erhebt er sein Glas: „So meine Parteifreunde, seit heute Abend sind wir der Machtübernahme wieder einen Schritt näher, Prost!“

Ich will das nicht!

8

4. Juni, gegen 2.20 Uhr: Die völlig durchgefrorene 17jährige Fiona A. wird nach 9 Stunden im Kessel und einer ausgiebigen erkennungsdienstlichen Behandlung durch die Polizei freigelassen. Mit Tränen in den Augen läuft sie zitternd zu ihren seit Stunden wartenden Eltern. Ein vermummter Polizist mit Helm ruft ihr noch hinterher: „Wenn ich dich linke Fotze heute noch mal auf der Straße sehe, hast du wirklich einen Grund zum Heulen!“

Ich will das nicht!

9

4. Juni, 5.30 Uhr morgens: Die übernächtigte DDR-Bürgerrechtlerin Katrin M. streitet sich am Küchentisch ihrer Connewitzer Wohnung verzweifelt mit ihrer 19-jährigen Tochter, die gerade aus dem Kessel nach Hause gekommen ist. Es geht um die Legitimität von Gewalt und Gegengewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung und die Frage, ob Pflastersteine potentielle Tötungswaffen sind oder nicht. Und Katrin M. sagt zu ihrer Tochter, dass sie da selber zu dieser Demo niemals hingegangen wäre, weil schon vorher Randale in der Luft lag, und was die Polizisten denn bitteschön anders machen sollten, wenn sie unter Lebensgefahr stünden, fügt sie auch noch hinzu. Und ihre Tochter sagt: „Mama, nu‘ halt‘ mal den Ball flach! – Erstens: du weißt, dass ich keine Steine schmeiße und dass ich das auch idiotisch finde. Aber zweitens – zu Deiner Beruhigung: Die Polizisten haben ballistische High-Tech-Helme auf. Das ist echt nicht so schlimm, wenn da wirklich mal so’n Stein gegenschrammt.“ Katrin M. muss schlucken. Sie wünscht ihrer Tochter, diese würde sich selber mal probeweise so einen Helm aufsetzen und die Polizeimontur anziehen und sich dann testweise von ihren eigenen Leuten mit Pflastersteinen bewerfen lassen. Und sie muss an den Satz von Heiner Müller denken: Erfahrung wird immer blind gemacht, sonst wäre sie keine Erfahrung. – Und dann erzählt sie ihrer Tochter mit möglichst emotionsloser Stimme die Geschichte von dem Kommunisten Erich M., der aus ärmlichsten Verhältnissen stammte und in der Weimarer Republik vor lauter Wut auf den Staat ein Faible für Gewalt und für Waffen entwickelte und der 1931 in Berlin auf offener Straße zwei Polizisten erschoss und anschließend ins Ausland floh und im Spanischen Bürgerkrieg im Thälmannbataillon kämpfte, dann unter falschem Namen für die Operation Todt der Nazis arbeitete und der dann ab 1953 Chef der DDR-Staatssicherheit wurde und der bis 1989 alle für Faschisten hielt, die anders dachten als er und sie auch so behandelte. Und die Bürgerrechtlerin spürt, wie eine Gänsehaut ihren Körper überzieht, während sie an diesen Erich Mielke denkt und sagt zu ihrer Tochter:

Ich will das nicht!

10

Der Vater von Johnny schaut sich eine politische Talk-Sendung des MDR zu den Ereignissen am 3. Juni in Leipzig an. Als Talkgast ist auch der sächsische Innenminister eingeladen. Es ist jetzt 9 Tage her, dass Johnny beim Kesseln am Schumann-Platz von der Polizei bewusstlos geschlagen wurde. Und es ist 6 Tage her, dass er, Johnnys Vater, mehrere Wartestunden auf der Polizeiwache Dimitroffstraße zugebracht hat, um endlich formell seine Anzeige wegen Körperverletzung gegen die Polizei machen zu können. Inzwischen hat er von Zeugen erfahren, dass einer der eingesetzten Polizisten sogar noch gegen Johnnys Kopf getreten hat, als der schon bewusstlos am Boden lag. Ein paar Bekannte, mit denen er in den letzten Tagen über den Vorfall gesprochen hat, haben abgewunken und ihm gesagt, dass es sinnlos ist in diesem Staat eine Anzeige gegen die Polizei zu machen, weil da eh nichts rauskommt. Aber Johnnys Vater will das nicht glauben, und er hält es für seine demokratische Pflicht, gegen Polizeiübergriffe juristisch vorzugehen. Das hatten wir alles schon mal und das will ich nie wieder, denkt er, während er sich jetzt, sechs Tage später, die Talk-Sendung im MDR anschaut. Und plötzlich hört er den Innenminister in die Kamera sagen: „Fakt ist: Es gibt bis heute nicht eine einzige Anzeige gegen die am Einsatz beteiligten Polizisten.“ – Wow!, denkt Johnnys Vater, so läuft das also in diesem Land! Oder zumindest: So geht sächsisch!

Ich will das nicht!

11

Der Innenminister und Marcel stehen mit Blumen bei Johnnys Vater vor der Tür. Sie sagen, sie wollen sich im Namen der Polizei entschuldigen und erkundigen sich nach dem Befinden von Johnny. Und sie schlagen vor, irgendwas mit Täter-Opfer-Ausgleich zu machen und eine Wahrheits- und Versöhnungskommission zu gründen wie damals Nelson Mandela in Südafrika. Und der Innenminister sagt, er wird sich den Rest seiner Amtszeit genau dafür einsetzen.

Johnny ist wieder aus dem Krankenhaus entlassen und Johnny lacht, als Johnnys Vater ihm von diesem verrückten Traum erzählt.

Das Lachen schmerzt und irritiert Johnnys Vater. Er fühlt sich von seinem Sohn mit diesem Traum nicht richtig ernst genommen und sagt: „Echt, Johnny, ich wünsche mir das wirklich für Dich! – Und für diese ganze verrückte Idee der Demokratie hier auch!“

TEXT: Kurt Mondaugen

Dieser Text wurde als Video veröffentlicht auf der Instagram-Seite „Gedächtnisprotokolle Alexis-Schumann-Platz“ – Bitte gern kommentieren, teilen & weiterleiten per Email oder Social Media.

BOMBENFUND oder: Die Macht des Schicksals

oder: Alles was dazwischenkommt

Nach einem Krach mit seiner als Psychoanalytikerin arbeitenden Mutter Natascha-Lou Salomé ist mein linksradikaler Sohn Johnny an seinem 16. Geburtstag mal wieder bei mir eingezogen. Und wie fast jeden Abend seither – immer wenn Johnny gerade von einer Demo oder einem Plenum oder vom Plakatieren nach Hause kommt – sitzen wir beide zusammen am Küchentisch und diskutieren vegan und verbissen über die Ideologie der Antideutschen, die Weltrevolution, die 11. Feuerbachthese und darüber, ob es wirklich eine gute Idee ist, am Tag X die von Nazis durchsetzte sächsische Polizei einfach aufzulösen und durch eine revolutionäre Arbeiter*innen-Miliz zu ersetzen. Und wo er, Johnny, denn bitteschön dafür die passenden Arbeiter*innen hernehmen würde, frage ich, und was die für eine Ausbildung bekommen würden in Sachen Rechtsstaatlichkeit bevor man sie auf Streifendienst durch die Stadt schicken würde, dass da nicht irgendeine Art Milizen-GULAG rauskäme am Ende, wie meistens in solchen Fällen – autoritärer Zwangscharakter und so – „Gib den Menschen eine Pistole in die Hand, und schon…! – Ich hab‘ das alles erlebt im Osten“, sage ich.

Und genau in diesem Moment klingelt es an der Wohnungstür. Zwei echte sächsische Polizisten mit Nazihaarschnitt stehen davor. Klar, denke ich, Theorie und Praxis gehören immer zusammen, auch in diesem Text hier, jetzt holen sie wieder mal Johnny ab. „Bitte zeigen Sie mir erstmal den Haftbefehl oder den Durchsuchungsbeschluss!“, skandiere ich wie im Reflex, noch bevor die Bullen irgendwas sagen können und blicke mich dabei fragend nach Johnny um. Aber der zuckt nur mit den Schultern und blickt genauso fragend zurück. „Oder ist das hier eine Rasterfahndung wie im Deutschen Herbst ‘77? Oder wurde das Grundgesetz im Freistaat Sachsen gerade außer Kraft gesetzt?“ spule ich inzwischen weiter mein übliches Anti-Polizeistaat-Lamento runter, um die Beamten irgendwie einzuschüchtern und hinzuhalten. Und das scheint mir auch zu gelingen, denn die starren mich wirklich mit wachsender Entgeisterung an, bevor der eine sich schließlich dann doch räuspert: „Golläsche, nu beruhigen Se sisch ma‘! Mer ham‘n hier ‘n Bombenfund am Leuschnerplatz und isch muss Se bidden, Ihre Wohnung unverzüschlisch zu verlassen bevor‘s vielleicht gleech rummst. Nehm‘ Se Ihre Wertsachen mit und vielleicht ooch noch Ihr Lieblingsguscheltier – kann ne lange Nacht wer‘n.“ Die Polizisten grinsen und steigen schon die Treppe hoch zu den Mietern ins Obergeschoß, wobei mir der eine noch zuruft: „O‘r bidde nur een Guscheltier pro Nase, ‘s wird sonst so enge im Luftschutzbunker, Golläsche!“

Fünf Minuten später trotten Johnny und ich schon unten auf der Karli lang Richtung Connewitz, um raus aus der Bomben-Bannmeile zu gelangen, die die Polizei inzwischen eingerichtet hat. Wir suchen ein Lokal, in dem wir den weiteren Abend verbringen können. Doch alle angesagten Läden, die wir ansteuern, sind schon gnadenlos überfüllt. Nach anderthalb Stunden landen wir schließlich in einer sehr improvisiert ostig oder vintage-ostig eingerichteten Kneipe irgendwo ganz tief im Süden, schon kurz vor Dösen, in deren Verkaufs-LineUp nur drei Getränke stehen: Sternburg-Bier, rote Limo & Pfefferminzlikör. Und auch dort sind gerade mal noch zwei Plätze frei – am hintersten großen Tisch in der Ecke, kurz vorm Klo. Und wir klopfen dort auf die Tischplatte und stellen uns vor mit „Kurt“ und „Johnny“. Und die anderen am Tisch nuscheln nun ebenfalls nacheinander: „Christian“, „Svitlana“, „Jochen“, „Olga“, „Heiner“, „Petra“, „Liesbeth“ und „Svante“. Dabei starren sie alle ziemlich betrübt vor sich hin auf ihre mit gelben oder roten oder grünen Flüssigkeiten gefüllten Gläser.

„Verfickte Bombe!“ sage ich, um mal ein Gesprächsthema anzubieten.

„Verfickte Bombe!“ greift Svante meine Vorlage mit leicht schwedischem Ikea-Akzent auf. „Verfickte Bombe!“, wiederholt er nochmal und erzählt, dass er von Beruf Molekulargenetiker sei, und dass er gerade heute Abend dabei gewesen wäre, die Gensequenzen von Neandertaler und Homo Sapiens in seinem Forschungslabor zu Ende zu sequenzieren, um die Herkunft der Menschheit und die Essenz des Mensch-Seins überhaupt besser zu verstehen und dafür den nächsten Nobelpreis für Medizin abzuräumen, aber das könne er sich nun wohl terminlich garantiert abschminken. „- Fuck!“

„Ja, verfickte Bombe“, nicke ich, „auch ich wollte eigentlich heute Abend meinen Text für die nächste Lesebühne schreiben.“

„Verfickte Bombe“ hakt jetzt auch Christian ein, der Rechtsanwalt ist, wie er sagt, und heute extra aus München angereist sei, um hier ein paar Wohnungen aus dem höherpreisigen Immobilienmarktsegment zu besichtigen, die er sich als zusätzliche Altersvorsorge in sein Portfolio stellen wollte, aber jetzt wären durch die bescheuerte Bombe einfach mal drei seiner Besichtigungstermine geplatzt. – „Fuck!“

„Ja, Scheiß-Bombe“, mischt sich jetzt auch Jochen ein. „Scheiß-Ami-Bombe übrigens. Apropos Amis, wenn Ihr mich fragt, die Amis und die CIA ham‘ eigentlich immer und überall ihre Finger drin, wenn es um Bomben und um Krieg geht. Und ich sage Euch: Wegen deren Scheiß-Krieg in der Ukraine sollen wir uns diesen Winter hier im Osten den Arsch abfrieren! – Nee, danke! –  Die Amis sollen mal lieber Frieden machen mit Putin, statt den Ukrainern  immer neue Waffen an die Front zu liefern.“ Und dass er weiß, wovon er redet, weil er zu Ostzeiten als Installateur an der Drushba-Erdöl-Trasse in der Sowjetunion mitgebaut hat, fügt Jochen auch noch hinzu. Und als er dann nach der Wende hier nach Leipzig zurückgekommen sei Ende 1990, sagt er, und mitgekriegt hat, dass die Scheiß-Westdeutschen hier schon alles übernommen hatten, da hätte er es aus Trotz erstmal kurz ein paar Jahre als Reichsbürger versucht. Das wäre ihm aber irgendwann doch zu krass gewesen. Inzwischen glaube er nur noch an Bitcoin und an Daniele Ganser und manchmal auch an Sarah Wagenknecht.

Und Svetlana sagt mit leicht ukrainischem Akzent, dass sie Deutsch- und Russischlehrerin aus Kiew sei und im März vor dem Krieg nach Leipzig geflohen wäre. Und: „Verdammte Bombe“ ergänzt sie dann wütend. „Ja – verdammte Bombe, Leute!“, wiederholt sie. „Ob Ihr es mir glaubt oder nicht, aber auch ich hatte heute noch anderes vor, Leute, als mir hier irgendwelche Jammer-Vorträge über nicht-zu-Ende-sequenzierte Neandertaler, nicht geschriebene Lesebühnentexte, geplatzte Immobilienspekulationen oder durchgeknallte Laudatios auf Bitcoin oder Daniele Ganser anzuhören! Wenn ich Euch alle mal ganz kurz daran erinnern darf, sitzen wir alle hier zumindest nicht in einem verdammten Luftschutzkeller in Kiew, und müssen zum Glück auch nicht jeden Moment damit rechnen, dass über uns so eine verfickte russische Rakete einschlägt. Stattdessen trinken wir hier in dieser verdammten deutschen Kneipen-Komfort-Zone Sternburg-Bier, Limo und Pfeffi, während ein paar hundert Kilometer weiter im Osten gerade Putins verdammter Krieg tobt!“

Betretenes Schweigen am Tisch.

 – „Ja, Krieg ist immer Scheiße“ sagt Petra schließlich, und sie hätte damals in den 80er Jahren während des Kalten Krieges in der DDR so einen Aufnäher „Schwerter zu Flugscharen“ auf ihrer Jacke getragen und sei dafür als Pazifistin von der Oberschule geflogen. Und Petras Freund Heiner fügt hinzu, sie hätten ihn damals zu den Mot-Schützen in die Nationale Volksarmee eingezogen, und es wäre die schlimmste Zeit seines Lebens gewesen, und seit damals hätte er definitiv die Schnauze voll von jeder Art Armee! Und er hätte deshalb kurz nach der Wende gleich als erstes Mal seinen verdammten Zonen-Wehrpass verbrannt und seine Hundemarke in den Müll geschmissen. – Und er sei von da an 30 Jahre lang zu jeder Friedensdemo hingerannt, die es in der Stadt gab.  Und dass er das mit dem verfickten Ukraine-Krieg jetzt überhaupt nicht mehr in seinem Kopf klarkriege.  Aber er hätte es schon damals gefühlt, als die Amerikaner ohne UN-Mandat Belgrad bombardierten in den 90ern und mit einem Sack voller Lügen in den Irak einmarschiert sind 2003, dass das irgendwann alles irgendwie zurückschlagen wird, wenn man das Völkerrecht und die Wahrheit einfach mal so nebenbei aushebelt – und das mit den Menschenrechten in Guantanamo sowieso.

„So ist es!“ meldet sich jetzt auch mein Sohn Johnny zu Wort: „Und wenn mutige Leute wie Julian Assange, die die Kriegsverbrechen der amerikanischen GIs aufdecken, dafür bis an ihr Lebensende verfolgt werden, dann ist es offenbar nicht weit her mit den USA als dem Hort der Freiheit und Demokratie.“

Und auch Jochen nickt eifrig „Ich sag’s ja, eigentlich sind die Amerikaner an allem schuld und nicht Putin!“

Woraufhin jetzt Liesbeth der Kragen platzt. – Sie scheint die Tochter von Petra und Heiner zu sein, trägt ein schwarzes Connewitzer Antifa-T-Shirt und wirkt kaum älter als mein Sohn Johnny. Und sie schreit jetzt quer über den Tisch: „Was ist das denn jetzt für eine verfickte relativistische Kackscheiße: Es ist jetzt jedenfalls definitiv nicht Biden, sondern es ist dieser homophobe russische KGB-Diktator Putin, der hier gerade einen verbrecherischen Angriffskrieg führt und der alles hasst und liquidieren will, was irgendwie anders ist als er selbst. Und der vor allem alle hasst, die frei und selbstbestimmt leben. Und die Punkband Pussy Riots hat das alles schon vor zehn Jahren kommen sehen, worauf es mit Putin hinausläuft und sie sind dafür ins Lager gesteckt worden, wie unter Stalin. Der Westen muss da endlich mehr schwere Waffen hinschicken, damit die Ukrainer Putins Überfall endlich ein Ende machen.“

Bei Liesbeths letzten Worten bricht plötzlich Olga, die bisher als einzige am Tisch noch gar nichts gesagt hat, in Tränen aus. Und unter lautem Schluchzen erzählt sie, dass sie und ihr Mann vor 25 Jahren als russland-deutsche Spätaussiedler aus Nowosibirsk nach Deutschland gekommen seien und dass sie hier zwei Söhne großgezogen hätten, und dass ihr Mann dann vor ein paar Jahren bei einem Unfall auf dem Bau ums Leben gekommen sei – und dass ihre beiden Söhne aus irgendeinem ihr unverständlichen Grund schon ihre ganze Schulzeit lang immer irgendwie pro-Putin gewesen seien. Und seit Kriegsbeginn hätten die beiden sich politisch so weit radikalisiert, dass sie vor drei Monaten über die Türkei nach Russland ausgereist seien, um sich von dort aus den russischen Separatisten oder gleich der russischen Armee anzuschließen. Sie wolltenda kämpfen, wo es am härtesten sei, um die Freiheit des Donbass zu verteidigen, hatten sie ihrer Mutter zum Abschied in einer WhatsApp-Sprachnachricht verkündet. – „Und jetzt habe ich schon seit fünf Wochen kein Lebenszeichen mehr von ihnen!“ ruft Olga laut schluchzend über den Tisch.

„Hört das denn nie auf mit dem Krieg?“ Petra hat tröstend den Arm um Olga gelegt. Und dann schaut sie Svante an und wiederholt die Frage eindringlich „Hört das denn nie auf mit dem Krieg? Hat es etwas mit dem verdammten Neandertaler-Gen in uns drin zu tun, Herr Nobelpreiskandidat? Kann man das nicht irgendwie rausschneiden aus unserer DNA – dieses verfickte Aggressions-Gen?“

„Du meinst: dieses verfickte Putin-Gen?“ verbessert Lisbeth ihre Mutter Petra.

„Du meinst: dieses verbrecherische Idioten-gibt-es-überall-Gen?“ verbessert Johnny wiederum Liesbeth.

Svante, der schwedische Gen-Forscher, zuckt hilflos mit den Achseln und verdreht die Augen.

Und Christian sinniert plötzlich laut vor sich hin: „Vielleicht wird Putin wird ja noch die Atombombe zünden und hier herschicken, wenn er sich in die Enge getrieben fühlt, und dann kann ich das mit meiner Altersvorsorge vergessen.“

Ich schüttele den Kopf. „Ich glaube, wir kommen hier nicht weiter, Leute“, murmele ich, „es gibt keine Lösung!“

Aber wie immer in solch aussichtslos erscheinenden Momenten meines Lebens spaziert jetzt wie aus heiterem Himmel Natascha-Lou, Johnnys Mutter, durch die Tür in die Kneipe und steuert auf unseren Tisch zu:

Und sie sagt laut zu mir und in die ganze Runde: „Kurt, du irrst Dich, das alles hier ist nicht aussichtslos: Es gibt immer eine Lösung!“ Und sie beginnt ungefragt, einen psycho-spirituellen Stehgreifvortrag darüber zu halten, dass das Leben natürlich ein vorherbestimmtes Schicksal sei und dass jede Situation, in die wir als Menschen geraten, immer eine tiefere Bedeutung hätte und dass jede Situation die Möglichkeit bieten würde, emotionale Verstrickungen zu erkennen. Und dass jeder Moment im Leben eine geistige Lernaufgabe bieten würde, und dass jede ausweglose Situation sich verändern würde, wenn man fähig wäre, die eigene Perspektive auf diese Situation einfach mal zu verschieben, und sei es nur probeweise. „Und ich würde jetzt mal sagen“, setzt Natascha-Lou ihre Ausführungen fort, während ihre Augen schon leicht zu phosphoreszieren beginnen, „dass auch diese amerikanische Flieger-Bombe aus dem 2. Weltkrieg da draußen auf dem Leuschnerplatz, die uns hier und heute in dieser Kneipe alle scheinbar zufällig zusammengeführt hat, eine tiefere Bedeutung besitzt. – Und die Bedeutung dieser Flieger-Bombe ist“, fährt Natascha-Lou jetzt schon beinahe wie im Trance fort, „dass es uns allen hier und jetzt mit einer gemeinsamen mentalen Kraftanstrengung gelingen kann, den Ukraine-Krieg ein für alle Mal zu stoppen!

Alle am Tisch starren Natascha-Lou entgeistert an.

Johnny verdreht die Augen. „Mutter!“

Aber Natascha-Lou lässt sich davon nicht beirren, schließt für einen Moment die Augen, so als würde sie tatsächlich seelischen Karma-Kontakt mit der verfickten Fliegerbombe am Leuschnerplatz aufnehmen, um eine Schwingungs-Botschaft von ihr zu empfangen. Dann räuspert sie sich kurz und scheint wieder voll fokussiert im Hier und Jetzt angekommen: „So, Leute, als Tiefenpsychologin glaube ich daran, dass jeder Mensch auf einer persönlichen Ebene letztlich immer irgendwo und irgendwie emotional erreichbar ist. Und meine Intuition in Bezug auf Putin sagt mir, dass man irgendwie eine persönliche Connection zu dessen kaputter Seele herstellen muss, um den Krieg zu stoppen. Was ich meine: vielleicht kennt der eine oder die andere von Euch hier an diesem Tisch jemanden, der oder die wiederum jemanden kennt, der oder die  jemanden kennt, der oder die jemanden kennt, der oder die jemanden kennt, der oder die so viel direkten persönlichen Zugang zu Putin und Einfluss auf ihn hat, dass er oder sie Putin veranlassen könnte, diesen wahnsinnigen Krieg sofort zu beenden!“

„Du meinst: so jemand cooles wie Gerhard Schröder?“ fragt Johnny ironisch dazwischen und grinst seine Mutter herausfordernd an.

„Wir brauchen hier keine destruktiven Einwürfe, Johnny, kreatives Brainstorming ist gefragt“, antwortet Natascha-Lou sanft aber bestimmt. Und sie bestellt für jeden von uns einen doppelten doppelten Brainstorming-Pfefferminzlikör. Und der Kellner bringt ein ganzes Tablett mit den grün gefüllten Sto-Gramm-Gläsern, als hätte er nur auf das Signal von Natascha-Lou gewartet.

Und Olga, deren Söhne im Donbass verschollen sind, schüttet ihr Glas als erste auf Ex hinter. „Ich glaube“ – sagt sie, und sie schluchzt noch immer, „ich glaube meine Cousine Ljudmilla Petrowna hat eine Patentante. Deren Großnichte mütterlicherseits, ist mit dem Kusscousin von dem Friseur von der Tochter des Hausarztes von Patriach Kyrills Lieblings-Großtante zusammen in den Kindergarten gegangen. Wenn die mal ein paar Takte mit ihrem Großneffen reden würde, könnte der sich vielleicht doch eines Besseren besinnen und dann seinerseits mal Putin so richtig in die Beichte nehmen.“ Und kaum hat Olga ihren Gedanken ausgesprochen, zückt sie auch schon ihr altes I-Phon und ruft ihre Cousine Ljudmilla Petrowna in Kaliningrad an und schildert ihr die Lage, die wiederum augenblicklich ihre Großtante Alexandra Timofejemna in Tscheljabinsk anruft, die sich wiederum sofort mit ihrer Großnichte Irina Alexejewna in Wladiwostok connected, die wiederum umgehend Sergej Panfilowitsch in Archangelsk an-called, der wiederum mit Iwan Maximowitsch in Moskau spricht, der seinerseits Anna Nikolajewna in Ostankino anruft, die wiederum … – usw. usw. – bis sich schließlich die hundertjährige Lieblingspatentante Nadeshda Sergejewna aus Perm tatsächlich ihren Patensohn Patriarch Kyrill zur Brust nimmt, der wiederum daraufhin wirklich Putin anruft. Und Putin sagt: „Na, wenn das so ist – warte mal, ich muss mir nochmal die Tarotkarten legen und in mein Horoskop schauen: Uranus und Pluto im siebten Hausder Gehängte! – Alles klar, Kyrill. Hiermit erkläre ich den Krieg – ähem die Militäroperation – für beendet und trete zurück, und ich ernenne Michail Gorbatschow zu meinem Nachfolger, ach nee, der ist ja tot, na dann eben doch: Alexej Nawalny. Ich hatte ja sowieso schon seit längerem vor, zusammen mit Elon Musk zum Mars auszuwandern.“ Und Putin legt auf. Und Patriarch Kyrill ruft seine hundertjährige Patentante in Perm an, um ihr die Neuigkeit mitzuteilen, und die wiederum called unverzüglich ihren Hausarzt Fjodor Alexejitsch an … – usw. usw. – … bis Ljudmilla Petrowna aus Kaliningrad schließlich wieder Olga anruft, die noch immer mit Tränen in den Augen bei uns am Tisch sitzt, während draußen schon der Morgen dämmert. Olga hält das Telefon an ihr Ohr – und es danach noch minutenlang fassungslos in der Hand – und dann verkündet sie in die Runde: „Leute, der Krieg ist vorbei! Der Scheiß-Krieg ist echt vorbei!“

Und in diesem Augenblick ertönt draußen von Ferne das Signalhorn des Kampfmittelbeseitigungsdienstes und gibt Entwarnung und ein Polizeiwagen mit Blaulicht driftet draußen vorbei durch den Morgennebel: „Liebe Bürger und Bürgerinnen: Die Bombe ist entschärft. Sie können alle zurück in Ihre Wohnungen!“

Und ich glaube jetzt vielleicht wirklich daran, dass alles im Leben ein Schicksal ist und eine tiefere Bedeutung hat. – „Bomber Harris sei Dank für diese entschärfte Fliegerbombe!“ denke ich und dass es doch ein etwas unwahrscheinlicher Schluss für diese Geschichte hier ist irgendwie, sage ich zu Natascha-Lou. Und die antwortet: „So bin ich halt, Kurt, das weißt Du doch!“

Kurt Mondaugen

Fotocredits: Roland Quester

Urlaub an der B 96 oder: Auch Adolf Hitler war ein Vegetarier

Ein deutsches Volksmärchen – verfilmt  in 4 Teilen

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Zoom und Schnitt

„Kurt, hast Du nicht auch das Gefühl, dass wir einfach mal schon ziemlich lange in einer Blase leben, hier im Leipziger Westen, meine ich, in dieser Plagwitzer Hipsterblase?!“, fragt meine therapeutische Freundin Natascha-Lou Salomé, während wir mit unserem unter seinen Kopfhörern gelangweilt vor sich hin rappenden 14jährigen Sohn durch den Kiez-Bioladen schlurfen. „… – Ich meine, dass wir gar nicht mehr richtig wissen, wie das wirkliche Volk eigentlich lebt und denkt und tickt“, fügt Natascha-Lou hinzu, und ob ich denn überhaupt einen vom wirklichen Volk persönlich kenne würde, der oder die zum Beispiel damals bei Legida oder bei Pegida mitgelaufen seien: „… einfache Krankenschwestern, Taxifahrer, Schlossermeister, zum Beispiel! Irgendjemanden, Kurt, der oder die nicht ‚irgendwas mit Medien‘ oder ‚irgendwas mit Kunst‘ oder mit Gender macht, oder Gymnasiallehrerin oder Psychotherapeutin, Sozialpädagoge oder Mediatorin ist, oder der oder die nicht wenigstens mit Abi- oder Bachelor- oder Masterabschluss eine queere Szene-Kneipe in der hinteren Georg-Schwarz-Straße betreibt?!“

Ich komme gar nicht dazu, ernsthaft über Natascha-Lous Frage nachzudenken, weil sie schon weiterredet: „Siehst du! Und deshalb denke ich, wir sollten Kontakt zur Basis aufnehmen und dieses Jahr einfach mal dort Urlaub machen, wo wirklich das echte Volk wohnt – in Ostsachsen zum Beispiel!“ Und sie tippt mit dem Finger auf einen kopierten handgeschriebenen Zettel am schwarzen Brett des Bioladens. Der ist mit kleinen Abreißtelefonnummern versehen. Und auf dem Zettel steht:

„Raus aus der Blase – Werde Volksempfänger! – Selbsterfahrungsurlaub in ländlichen Raum in Ostsachsen direkt an der B 96. Inklusive Kurs in gewaltfreier Kommunikation. – GFK!“

Und darunter steht ein Zitat:

Du kannst Dich jederzeit entscheiden, wie Du die Worte Deines Gegenübers aufnimmst, die Macht liegt bei Dir. – Marshall B. Rosenberg“

Ich blicke skeptisch, erst auf das Stück Papier, dann in Natascha-Lous vulkanisch zuckende Pupillen. – Und ich weiß natürlich gleich, dass die Macht über die Urlaubsentscheidung eigentlich schon längst nicht mehr bei mir liegt. Und ich denke, dass es auch für einen Hobby-Philosophen wie mich vielleicht eigentlich gar nicht so falsch sein kann, ab und zu mal wirklich auf Volkes Stimme zu hören, um nicht am Ende wie Sokrates von eben diesem Volk per demokratischem Mehrheitsvotum wegen zu großer Hipster-Arroganz um die Ecke gebracht zu werden. Und dann fällt mir noch der Film ein, den ich letztens gesehen habe, und in dem der 12jährige Hauptheld in dramatischen Entscheidungssituationen immer wieder diesen einen Satz vor sich hinmurmelte: „Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut!“ – Und ich sage zu Natascha-Lou laut und vernehmlich: „Hm!“

 

Zoom und Schnitt

Und deshalb sitzen wir jetzt heute also ab diesem Sommer-Sonntagmorgen in aller Frühe zu dritt in einem Carsharing-Auto von Plagwitz aus unterwegs auf der Autobahn Richtung Oberlausitz oder Niederschlesien. Und Natascha-Lou hockt voll euphorisiert und hibbelig am Steuer und lässt zur Einstimmung schon seit Stunden das Schlesierlied in Techno-Lautstärke durch die Autostereoanlage schrammeln, Und ich lese abwechselnd irgendwas Krasses von Jacques Derrida und von Karl May: „Durch das wilde Kurdistan“, um mich auf die Begegnung mit den Eingeborenen vorzubereiten. – „Sag mal, warum mussten wir eigentlich heute schon so früh losfahren – müssen wir um zehn irgendwo bei Bautzen bei ‘nem Gottesdienst sein oder so?“

„Nein, kein Gottesdienst! – Jedenfalls nicht direkt“, antwortet Natascha-Lou, „ich wollte Euch aber etwas zeigen, das es tatsächlich nur sonntags und nur hier in Ostsachen zu erleben gibt  immer zwischen 10 und 11.“

Und es ist jetzt tatsächlich gerade Punkt 10 Uhr, und wir biegen von der Autobahn ab auf die B 96. – Und auf den nächsten 20 Kilometern rauschen wir dort tatsächlich vorbei an einem einmalig-unfassbaren Parcours aus Menschen mit Plakaten und AFD- und Reichskriegsflaggen, umgekehrten Deutschlandfahnen und Fahnen des Kaiserreichs…

„Wie krass ist das denn?“, murmelt unser 14jähriger Sohn, der auf dem Rücksitz aus dem Tiefschlaf unter seinen Kopfhörern erwacht ist.

„Ja, da staunt Ihr, was!? So was gibt’s bei uns in Plagwitz nicht, oder?“ Und Natascha-Lou winkt aus dem Fenster. Wir starren sie entgeistert an, während Natascha-Lou uns zumurmelt: „Nun habt Euch nicht so. Winkt einfach auch mal! – Wir müssen Kontakt aufbauen zu den Einheimischen. Die müssen Zutrauen fassen.“

Mein Sohn und ich fragen verstört: „Wieso Zutrauen fassen?“

„Na, weil wir jetzt eine Woche lang hier unter diesen Volksgenossen leben werden und weil wir dann nächsten Sonntag um die gleiche Zeit mit unsern eigenen Volks-Protest-Plakaten neben ihnen stehen wollen.“ Bei diesen Worten bremst Natascha-Lou das Auto scharf, denn wir haben das nächste Dorf erreicht und biegen dort direkt hinter der Landfleischerei „Fleisch-Wolf“, aus deren oberen Fenstern eine riesige AFD-Fahne hängt, von der Bundesstraße ab in eine schmale Seitengasse. Hundert Meter weiter haben wir das Ziel unserer Reise erreicht: eine alten LPG-Lagerhalle für Nitrofen. Die Veranstalter unseres Selbsterfahrungs-Sommercamps haben sie offenbar kostengünstig angemietet und notdürftig zu einer Art Tagungszentrum umgestaltet. Quer über die 50 Meter lange Längsfront der Halle hat jemand ein Banner gespannt: „Gib anderen niemals die Macht, dich zur Rebellion oder zur Unterwerfung zu verleiten. – Marshall B. Rosenberg“

Vor der Halle stehen schon ein paar andere Autos und etliche Fahrräder mit Kinderanhängern – und daneben drei Dutzend verstört blickende Leipziger Hipster, die die Anreiseerlebnisse auf der B 96 gerade in Schockstarre versetzt hat.

Unser Sohn steigt aus dem Wagen, nimmt zum ersten Mal seit einem halben Jahr in unserer Anwesenheit seine Kopfhörer ab und sagt. „Ich bin raus, Leute! Ich fahr zurück! Und wenn ich hier jemals wieder herkomme, dann nur mit der Russenmafia und meinen vietnamesischen und koreanischen Karate-Freunden.“

Und Natascha-Lou nickt verständnisvoll und antwortet mit so einem weiteren Psycho-Kalenderspruch aus dem Diskurs-Universum der gewaltfreien Kommunikation: „Wenn wir unsere Bedürfnisse nicht ernst nehmen, tun es andere auch nicht. Marshall B. Rosenberg.“

Und unser Sohn murmelt „Fuck“ und schlurft Richtung Bundesstraße davon, während Natascha-Lou und ich unsere Rucksäcke, Isomatten und Schlafsäcke in den mit Stroh ausgestreuten hinteren Teil der Lagerhalle schleppen, der offenbar als Schlafsaal dienen soll. Fünf Minuten später ist auch unser Sohn wieder da. Kreidebleich. Er hat es kaum 200 Meter durchs Dorf geschafft, sagt er. – „Alter, da kleben überall Höcke- und Hitler-Fotos in den Fenstern und Schlimmeres!“

„Genau darum geht’s“ antwortet Natascha-Lou, nestelt ein Hand-Megaphon aus ihrem Rucksack und beginnt so was wie eine offizielle Durchsage für alle zu machen: Dass wir uns nämlich jetzt draußen hinter der Halle um den Lagerfeuerplatz zur Begrüßung versammeln sollen, sagt sie. –  Hätte ich mir ja denken können, dass Natascha-Lou hier nicht nur Gast sondern fett Mitorganisatorin ist bei diesem Psycho-Volks-Urlaubstrip.

Und dann steht sie da tatsächlich zusammen mit ihrem sechsköpfigen Orga-Team am schwelendern Lagerfeuer und lächelt: „Herzlich Willkommen, liebe Leipziger Hipster und Hipsterkinder zu: Raus aus der Blase – Werde Volksempfänger! – Selbsterfahrungsurlaub in Ostsachsen!

Und einer ihrer Kollegen übernimmt und erklärt, dass es in den nächsten sieben Tagen darum ginge, dass jeder von uns tief in sich drin sein eigenes verschüttetes inneres Volk wiederfinden müsse, denn erst wenn wir zum eigenen Volk in uns drin wieder Kontakt hätten und wenn wir gelernt hätten, auf die wirklichen Gefühle und Bedürfnisse dieses eigenen inneren Volkes zu hören, erst dann könnten wir auch mit dem Volk da draußen an der Bundesstraße wirklich Kontakt aufnehmen. „Erst dann können wir durch die verbittert-verkniffenen Gesichter der Einheimischen hindurch die tiefe innere Schönheit dieser Gesichter entdecken, und genau das ist es, worauf es ankommt, Leute, denn: Die Schönheit in einem Menschen zu sehen ist dann am nötigsten, wenn er auf eine Weise kommuniziert, die es am schwierigsten macht, sie zu sehen. Marshall B. Rosenberg. – Also: Wir haben jetzt alle zusammen eine Woche Zeit! Und dann ist D-Day. – Das heißt, dann ist der nächste Sonntag, an dem wir alle von 10 bis 11 Uhr zusammen mit dem wirklichen Volk dort vorne an der Bundesstraße stehen werden und dabei unsere eigene innere Volksseele ausdrücken und mit allen über ihre und unsere tiefsten inneren Bedürfnisse sprechen können und müssen.“

 

Zoom und Schnitt:

Ich liege verzweifelt auf meiner Isomatte. „Natascha-Lou, ich kann das nicht! – Ich kann mein inneres Volk nicht finden! Es ist schon Freitagnachmittag, und ich mache keinerlei Fortschritte!“

„Ach, das geht schon, Kurt“, flüstert Natascha-Lou und fummelt ein bisschen an meinem Herz- Chakra rum. „Atme erstmal tief ein und aus! – So und dann denke einfach mal an – sagen wir  an ein Lebensmittel, ein Lebensmittel, dass du tief im Inneren bei dir mit Volk verbindest, mit dem Gefühl von Volk verbindest.“

Ich atme und spüre in mich hinein: Nichts, denke ich, wirklich nichts, denke ich, Bockwurst, denke ich. „Bockwurst!“ murmele ich. Bockwurst, spüre ich jetzt plötzlich tief in mir drin… „So ist gut“, höre ich Natascha-Lous Stimme schon ein bisschen wie von Ferne, während sie mir sanft die Augenlider zudrückt. „Weiteratmen Kurt, weiteratmen, atme tief in dieses Bockwurst-Gefühl hinein, immer tiefer, bis es zu Dir spricht, bis es tief aus dem Bauch zu dir spricht – ja, so ist es gut, tiefer, Kurt, noch tiefer! – Und jetzt, jetzt werde diese Bockwurst, jetzt werde wirklich diese Bockwurst und gehe noch tiefer, gehe zu deinem inneren Volk! – Gehe jetzt als Bockwurst zu dem tiefsten inneren Volk deiner Kindheit in dir drin und sprich zu diesem deinem Volk! Sprich: Ich will gegessen werden! – Sprich als Bockwurst zu deinem inneren Volk und ruf ihm zu: Beiß in mich rein, dass das Fett nur so spritzt!

Und während Natascha-Lou mich hypnotisch in Bockwurst-Trance versetzt, tauchen tatsächlich die Bilder meiner Ahnen wieder auf: meine Groß- und Urgroßväter und Groß- und Urgroßmütter, die alle das wirkliche Volk waren irgendwie – zumindest Job-mäßig: Köchinnen, Schlosser, Meliorationsarbeiter, Gärtner, Schuster, Kalikumpel, Landarbeiterinnen, Zugeh-Frauen – ganz tief in der anhaltinischen Provinz, wenn sie nicht gerade wie der älteste meiner Urgroßväter am 6. August 1914 nicht mal 21jährig aus dem Dorf raus in den ersten Weltkrieg spazierten mit dem Spruch auf den Lippen: „Wenn ich zurückkomme, habe ich die Taschen voller Gold!“ Und natürlich ist er gleich 14 Tage später in Frankreich an einem Bauchschuss krepiert, aber das ist vielleicht ein anderes Thema! – Jedenfalls: was alle meine Ahnen aber einte und was sie tief im Inneren wirklich zum Volk machte, war diese tiefe Liebe zur Bockwurst, mit der sie auch die Generation meiner Eltern und sogar noch meine eigene Kindheit im Osten prägten. – Bei jedem Ausflug in  die örtliche Dorfkneipe, am Kiosk an der Bushaltestelle in der nahegelegenen Kleinstadt oder in den Mitropa-Bahnhofsgaststätten der Umgebung, auf jedem Volksfest meiner Kindheit gab es sie: die heilige Volkskommunion der Bockwurst! – Und ich habe als Kind immer freudestrahlend mitgegessen: volkseigene Ost-Bockwurst mit viel Bautzener Senf!

Und dann kam die Wende, und ich wurde erwachsen. Und ich ging weg aus der Provinz und begann neue Freunde zu haben, mit denen ich anfangs auch immer noch Bowu aß in der Kneipe während wir über Velvet Underground oder Frank Zappa philosophierten, die aber dann wie mein Freund Jens plötzlich zu Hare Krishna gingen und Vegetarier wurden und auf einmal Sätze zu mir sagten wie: „Wer zu viel Bockwurst ist, denkt auch irgendwann Bockwurst.“ Sätze, die meine Seele infiltrierten, Sätze mit deren Hilfe ich mich plötzlich vom Volk zu unterscheiden beginnen glaubte und die innere Bockwurst meiner Kindheit und meiner Ahnen plötzlich tief in mir zu verstecken und wegzusperren müssen meinte, obwohl sie so traurig guckte dabei…

„Kurt“, ich höre jetzt wieder Natascha-Lous Stimme etwas näher an meinem Ohr, „was meinst du, was will deine innere Bockwurst jetzt in diesem Moment von dir? Welches Bedürfnis hat sie?“

Keine Ahnung, denke ich.

„Sie will gesehen werden!“ souffliert Natascha-Lou in mein Ohr.

Und ich denke: Ja, sie will gesehen werden, wir wollen alle gesehen werden in diesem Leben und auch meine innere Volksbockwurst will gesehen werden! Und ein paar Tränen tropfen mir aus den Augen. Und vor lauter innerer Rührung mache ich mich gleich auf den Weg zur Landfleischerei „Fleisch-Wolf“ vorn an der Bundesstraße, um unter der großer blauer AFD-Fahne Bockwurst zu kaufen und Erstkontakt aufzunehmen.

 

Zoom und Schnitt

Es ist Sonntag. Es ist D-Day. Unser ganzer Selbsterfahrungs-Kurs macht sich schon um 9 Uhr mit selbstgebastelten Transparenten von der Lagerhalle aus auf den Weg zur B 96, um rechtzeitig gute Stellplätze für die Demo zu ergattern. Ich selbst baue in der Dorfmitte direkt gegenüber der Landfleischerei einen kleinen volksphilosophischen Info-Stand auf und entrolle dazu meine vier selbstgebastelten Banner:

Ein Banner von Rousseau: „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten.“

Ein Banner von Hegel: „Was vernünftig ist, ist wirklich, und was wirklich ist, ist vernünftig.“

Und ein Banner von Heinrich Heine: „Die Deutschen sind ein gemeingefährliches Volk: Sie ziehen unerwartet ein Gedicht aus der Tasche und beginnen ein Gespräch über Philosophie.“

Und zuletzt ein Banner auf dem steht: „Auch Adolf Hitler war ein Vegetarier!“

Zudem habe ich einen Spirituskocher, einen großen Topf mit Wasser und 30 Bockwürste, dabei, die ich Freitagabend kurz vor Ladenschluss beim „Fleisch-Wolf“ noch schnell erstanden hatte. Ich hänge mir eine Fleischerschürze und ein Pappschild um den Hals, darauf steht: „Hier Volks-Bockwurst Widerstand 2020! Auf Spendenbasis abzugeben für 1 Euro das Stück. Philosophieren umsonst!“

Und dann zähle ich die Zeit runter, bis die ersten Einheimischen hier auftauchen werden. – Wie werden sie reagieren? Werden sie sich schweigend neben mich stellen und ihre unverständlichen Fahnen entrollen? Werden sie bei mir eine Bockwurst kaufen und meine Plakate lesen und mit mir philosophische Gespräche darüber beginnen? Oder werden sie mich einfach umbringen? – Gleich ist es so weit, gleich werde ich es wissen, gleich ist es 10 Uhr, gleich muss das Volk auftauchen. Ich muss nur in Resonanz mit ihm gehen: „10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1…“

 

Die Ich-weiß-alles-Verschwörung – Widerstand 2020

„Ich habe Angst, Angst vor Corona, Angst vor den Nebenfolgen von Corona, Angst vor zu schnellen Lockerungen, Angst vor zu langsamen Lockerungen, Angst vor dem Fortbestehen des Social Distancing und den Kollateralschäden des Distancing, Angst vor den überschießenden Kontroll-Phantasien der Innenminister… – aber die größte Angst“, sage ich, „habe ich mittlerweile vor einem Teil meiner langjährigsten Freunde und Bekannten!“

Meine Therapeutin Natascha-Lou Salomé sitzt mir gegenüber hinter ihrem Behandlungstisch, nickt und schaut mich aufmunternd an.

„Ich meine, ich habe Angst vor dem Teil meiner Freunde und Bekannten, die mir inzwischen alle paar Stunden die neuesten weitergeleiteten Whatsapp-, Telegram oder Youtube-Nachrichten schicken von der ultimativen Wahrheits-Front zur Enthüllung der großen planetaren oder intergalaktischen Corona-Verschwörung. Langjährige Freunde, die plötzlich über wirklich definitiv ALLES im Universum hundertprozentig Bescheid wissen – von den Hinterzimmern des Deep State, bis zu den Top-Secret-Zusatzprotokollen der letzten Geheimsitzungen von Bilderberg, Zion, WHO und RKI.“ Ich atme tief durch. „ – Und das Schlimme ist, dass ich nie gedacht hätte, dass ich irgendwann in meinem Leben eines Tages sogar noch einmal Bill Gates würde verteidigen müssen – und das ausgerechnet vor meinen Freunden. – Und das noch Schlimmere ist, dass ich mir von denen dann sagen lassen muss, dass ich entweder ideologisch blind wäre oder selber auf der Gehaltsliste von Bill Gates stehen würde! Und dass ich Michel Foucault offenbar nie richtig verstanden hätte, und das gerade jetzt, wo es drauf ankäme zu kapieren, dass die Corona-Wahrheiten immer von den Mächtigen produziert würden und zu ihren Zwecken. Und ob ich alles vergessen hätte, wofür wir 1989 oder 2003 oder 2014 auf die Straße gegangen wären.  Und das Allerschlimmste daran ist, dass meine Freunde und ich gefühlt bis gestern noch wirklich immer gemeinsam auf der richtigen Seite der Barrikade demonstriert haben: 2003 gegen den Irak-Krieg und diese machtgeilen Präsidenten und Premierminister Bush und Blair und ihre verdammten Lügen über diese angeblichen Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein, mit dem sie diesen ganzen verdammten Krieg rechtfertigten, der bis heute andauert und Hundertausende Tote gekostet hat. Einer meiner Freunde hatte damals auf den Demos immer skandiert: ‚Traue keiner CIA, die du nicht selbst gegründet hast‘ – ‚…und keinem KGB, denn der versteht keinen Spaß!‘ hatte ich den Reim damals immer lautstark ergänzt. Und mit einem anderen dieser Freunde bin ich im Frühling 2005 in einem alten VW-Tour-Bus wochenlang quer durch Deutschland gefahren, und wir haben nachts die Gentechnik-Maisfelder von Monsanto zerstört. Und Freiheit für Edward Snowden oder Pussy Riots oder Julian Assange! haben wir später zusammen geschrien vor dem amerikanischen oder russischen Konsulat. Und 2014 standen wir noch gemeinsam gegen Legida auf dem Augustusplatz. Und nun dieser verdammte Corona-Schlamassel, in dem einie meiner alten Freunde in jeder freien Minute ihres Lebens das Internet durchforsten nach immer krasseren Belegen über Unstimmigkeiten und Lügen in Bezug auf das Coronavirus und seine Existenz oder Nichtexistenz, seine Herkunft oder Nichtherkunft, seine Gefährlichkeit oder Ungefährlichkeit und den Verschwörungen, die in jedem Fall dahinterstecken. Und ich bin zunehmend gestresst und genervt, weil ich wegen dieser ganzen verdammten ehemaligen Freunde nun selber seit Wochen gezwungen bin, fast meine gesamte Freizeit damit zuzubringen, mir epidemologisches Fachwissen anzueignen und ein Corona-Diplom nach dem anderen zu erwerben, nur um meinen durchgeknallten Freunden halbwegs vernünftige Argumente entgegenhalten zu können, was die aber überhaupt nicht beeindruckt. Statt dessen lesen sie jetzt sogar BILD-Zeitung, rufen mich nachts um zwei an und skandieren: Siehst du, nun sagt auch Kekulé, dass Drosten ein Betrüger ist! Ich bin mit den Nerven echt am Ende. Wenn das so weitergeht, werde ich selber noch paranoid!“, seufze ich. „Deswegen bin ich hier, Natascha-Lou.“

Natascha-Lou legt ihre Hand auf mein Scheitel-Chakra: „Ganz ruhig, Kurt, das sind nur die üblichen psychischen Begleiterscheinungen von emotionalem Stress. Es ist ganz normal, dass du Angst hast,“ sagt sie – „alle haben zur Zeit Angst– aber jeder projiziert diese Angst anderswo hin. Und jeder will sich absichern dagegen. Und das Gefühl zu den echten Bescheid-Wissern zu gehören, das beruhigt bei vielen Menschen echt die Nerven und baut den Stresspegel in den Hormonen ab“, flüstert Natascha-Lou, streicht zärtlich über meine zuckenden Schläfen und drückt mir dann Leiwand, Pinsel und Acrylfarben in die Hand.  „So Kurt, dann male dein Problem doch erstmal auf! – Wir starten heute mit Kunsttherapie!“

Und ich male also das erste Mal in meinem Leben mit Acrylfarben – in einem eigentümlich gemischten Style aus neuer Leipziger Schule, Neo Rauch und A.R. Penck:

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„Aha“ sagt Natascha-LOU mit diesem psycho-investigativen Unterton, den ich eigentlich gar nicht an ihr mag, „so sieht‘s aus!“

„Wie sieht‘s aus?“ frage ich gereizt zurück.

Natascha-Lou hypnotisiert meine Retina. – „Na sieh nur hin, Kurt: Du weißt ja offenbar auch alles, genau wie deine alten Freunde!“

„Das ist Ironie“, sage ich – „Da steht: YEAH! Da steht: LOVE!“

„Bist du sicher, dass es nur Ironie ist bei Dir – und bei deinen alten Freunden und Bekannten nicht?“

„Ja klar, ist es Ironie bei mir, aber was meine alten Freunde angeht: Die sind alle durchgeknallt und irgendwie fremdgesteuert!“

„So, so – fremdgesteuert also! Von Höcke vielleicht oder den Außerirdischen?!“

Ich schweige betroffen.

„Ist es schlimm?“ frage ich irgendwann kleinlaut zurück.

„Nein – das ist auch nur das übliche Bescheid-Wiss-Syndrom bei Dir!“

„Und wie kann man das heilen?“

„Kurt, du musst einfach dahin gehen, wo es am schlimmsten ist, “

„Das is‘n Witz, Natascha-Lou !?“

„Nee, is kein Witz!“

„Echt jetzt?“

„Echt jetzt. – Du musst dahin gehen, wo alle anderen auch hingehen, die wirklich über Corona Bescheid wissen. – auf die örtliche Hygiene-Demo. Radikale Konfrontationstherapie sozusagen – und ich werde Dich begleiten.“

„Natascha-Lou, ich habe Angst, dass ich mich da selber mit Paranoia anstecke. Kannst Du mir nicht vorher eine Schutzimpfung geben dagegen?“

„Gegen Paranoia-Ansteck-Ängste gibt es leider noch keine Impfung. So was zu entwickeln, hat selbst Bill Gates noch nicht geschafft! – Aber warte mal, mir fällt da was ähnliches ein.“ Und Natascha-Lou holt aus einem versteckten Schubfach ihres Behandlungstischs eine kleine orientalisch bemalte Holzdose hervor. Und dann baut sie uns erstmal einen fetten Joint.

„Geht das bei Dir auf Kasse?“ frage ich, blase die ersten Kumuluswolken Richtung Zimmerdecke und grinse.

 

Eine halbe Stunde später stehen wir auf der lokalen „Ich weiß alles“-Widerstand-2020-DEMO in der Leipziger Innenstadt. Natascha-Lou, die die ganze Demo irgendwie mitzuorganisieren scheint, hat mich gleich mal auf die Redner-Liste gesetzt. Aber da ich erst als zweiter dran bin, muss ich zunächst mit anhören, wie ein arbeitsloser Lufthansa-Kapitän berichtet, wie ihn die Außerirdischen, Greta Thunberg und Angela Merkel jahrelang gezwungen haben, Chemtrails über Leipzig-Mockau zu verspritzen. Und während er weiter- und sich in Rage redet, lautet jedes dritte Wort: „DIE Schuldigen“ oder „DIE Hintermänner“ oder „DIE Marionetten“ oder „Nützliche Idioten!“ oder „Ich weiß alles!“ oder „Lasst Euch nicht verarschen“ und dass es Zeit wird, dass Drosten was auf die Fresse kriegt, sagt er auch noch irgendwann.

Und ich schaue Natascha-Lou fragend an. Aber sie flüstert nur beruhigend: „Das ist Teil der Angst-Therapie, Speakers Korner für alle, verstehst du, Kurt? – Das muss alles raus, das ist wie Katharsis, dass die das alles mal sagen dürfen, was so Irres durch ihren Kopf geistert, dass die ganze Angst mal rauskommt, die sollen sich hier alle mal schön die Seele freisprechen, sich innerlich freispülen. Die ganze Angstschlacke muss raus nachdem sie zwei Monate eingesperrt war!“

„Aber wenn man denen hier so zuhört, dann kriegt man doch eher neue Angst.“ Will ich entgegen, aber mein Vorredner hat geendet und Natascha-Lou zieht mich hinter sich her auf die Bühne. – „Und jetzt spricht zu uns: Kurt Mondaugen, Leipziger Literaturschamane, der auch über alles Bescheid weiß– yeah!“ und sie zwinkert mir zu und flüstert: „Fass Dich kurz, nach dir ist der wunderbare Ken Jebsen dran!“

Und ich stehe also bekifft und mit schlotternden Knien auf dieser krassen Hygiene-Demo-Bühne und um meine Nerven zu beruhigen, sage ich: „Ich werde jetzt 3 Lieder für uns singen, um unsere Stimmung aufzuhellen und um die wirkliche Wahrheit ans Licht zu bringen!“, füge ich mit schon etwas festerer Stimme hinzu. – „Wir lassen uns keine Angst machen – von nichts und niemandem!“ rufe ich. „Und das erste Lied, das ich jetzt singen werde, heißt: EINES TAGES WERDEN WIR ALLE STERBEN. Und es geht so:

 

 

Eines Tages werden wir alle sterben

 

Eines Tages werden wir alle sterben

Und der Tod wird ganz nah und gut erreichbar sein

Und da können wir dann noch so viel Drogen nehmen

Oder rauchen oder saufen – es nützt jedenfalls nichts

Und es bringt auch nicht mehr wirklich was ein

 

Alles ist ja dann irgendwie beliebig

Wenn man sich den Tod mal so richtig anschaut

Ich meine mal so ganz aus der Nähe

Durch so’n Karzinom zum Beispiel in der Leber

Oder durch n Krebszelle in deiner Haut

 

Darum haut jetzt noch mal richtig rein in die Tasten

Und sprecht noch einmal in das Klavier

Laßt uns noch einmal so voll Panne ausrasten

Für uns selbst und für das Mädchen

an der Bar da mit dem Staropramen Bier

 

Es könnte ja das letzte Mal sein

Du stehst auf und plötzlich bist du tot

Da kann dann auch die Polizei nichts mehr machen

Sie können höchstens noch den Krankenwagen rufen –

also fahr doch lieber schnell noch mal Segelboot

 

Oder mach all die anderen Sachen,

die du schon immer tun wolltest – zum Beispiel unmotiviert schrei‘n

Und ich könnte euch echt noch tausend Vorschläge machen

Was ihr noch schnell tun sollt bevor ihr sterbt

aber es fällt mir jetzt gerade eben nichts mehr ein

 

Also mach ich jetzt mal Schluß an dieser Stelle

Mit dem schwierigen Thema Tod

Daran zu denken, muss ja wirklich nicht immer passen

Sollte man sich aber trotzdem nicht von abhalten lassen

Denn eines Tages steht auch deine Ampel auf rot

 

Für immer auf rot!

Für immer auf rot!

Für immer auf rot!“

 

Die Menschen jubeln und klatschen und rufen: „Jawoll, so machen wir’s!“ und über den Applaus hinweg zitiere ich zwei meiner regierungskritischsten Lieblingsphilosophen: „Die herrschenden Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse. – Karl Marx! Und: Kritik ist die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden. – Michel Foucault!“ Und während all meine Fans vor der Bühne immer frenetischer applaudieren, beginne ich mein zweites Lied anzustimmen, es heißt:

Paranoiaparadies

 

Es gibt so Tage, da schaltest du WhatsApp an,

Corona-Lüge, Klima-Terror und Krieg in Lugansk,

alles ist voll Panne mit der Welt, denkst du dann,

Kalifatstaat errichtet in der Eisenbahn-

 

Straße im Leipziger Osten, das haut dich jetzt voll um

Und du fühlst: früher war alles besser, zumindest in deiner Erinnerung

Eh, da bleibt nur eins, sag ich dir, bring dich nicht gleich um,

sondern wechsel’ einfach schnell mal deine Welt-Wahrnehmung

 

Die Wahrnehmung wechseln, das ist gar nicht teuer

Und es funktioniert auch ungeheuer

easy, – he, also legt doch dein Steuer

innerlich um: mal so voll auf Paranoia.

denn:

Neben der Wahrnehmung, da geht es weiter,

steig doch einfach mal in so ’nen Para-Gleiter

breit deine Arme aus, schrei und genieß

jetzt den Blindflug ins Paranoiaparadies.

Para-Para-Para-Paranoiaparadies

Para-Para-Para-Paranoiaparadies

Para-Para-Para-Paranoiaparadies

Komm’ wir flieg’n zusammen ins Paranoiaparadies!

 

Es gibt so Tage, da brauchst du mal ’ne andre Welt,

aber wegen Corona hast du mal eben kein Urlaubsgeld

übrig – und easy jet fliegt auch nicht mehr und du fühlst dich irgendwie wie bestellt

und nicht abgeholt, hier auf dem Rock’n’Rollfeld.

 

Dann sag ich dir: He, alles ist doch wunderbar

Und das Urlaubsparadies ist auch für dich schon ganz nah

Nimmst du die Abkürzung, dann bist du gleich da

Also, lass es voll krachen jetzt mit Paranoia

 

Die Wahrnehmung wechseln, das ist gar nicht teuer

Und es funktioniert auch ungeheuer

easy, – he, also legt doch dein Steuer

innerlich um: mal so voll auf Paranoia.

denn:

Neben der Wahrnehmung, da geht es weiter,

steig doch einfach mal in so ’nen Para-Gleiter

breit deine Arme aus, schrei und genieß

jetzt den Blindflug ins Paranoiaparadies.

 

Para-Para-Para-Paranoiaparadies

Para-Para-Para-Paranoiaparadies

Para-Para-Para-Paranoiaparadies

Komm’ wir flieg’n zusammen ins Paranoiaparadies!

 

Willst du noch mal wirklich an irgendwas glauben

He dann schließ’ doch jetzt einfach mal ganz kurz die Augen

Und lass dich voll rein in die Paranoia saugen

Denn Paranoia tut zu allem taugen

 

Zum Beispiel Home-Office ist ja auf Dauer echt nicht schön,

und willst du vom Leben noch mal echt was anderes seh’n,

als die eigenen 4 Wände oder dabei nicht durchdreh‘n

Dann musst du einfach nur neben die Wahrnehmung geh’n!

 

Die Wahrnehmung wechseln, das ist gar nicht teuer

Und es funktioniert auch ungeheuer

easy, – he, also legt doch dein Steuer

innerlich um: mal so voll auf Paranoia.

denn:

Neben der Wahrnehmung, da geht es weiter,

steig doch einfach mal in so ’nen Para-Gleiter

breit deine Arme aus, schrei und genieß

jetzt den Blindflug ins Paranoiaparadies.

 

Para-Para-Para-Paranoiaparadies

Para-Para-Para-Paranoiaparadies

Para-Para-Para-Paranoiaparadies

Komm’ wir flieg’n zusammen ins Paranoiaparadies!

 

Corona-Tage, die sind so palle-pille

Und im Social-Distance-Modus schmeckt das Leben voll wie Gülle

Doch wo ein Weg ist, sag ich Euch, da ist auch ein Wille

Und darum setzt sie jetzt auf – die Paranoiabrille!

 

Und das ist jetzt auch schon das Ende vom Lied,

Zum Schluss noch mal mein Ge-he-heim-Tipp,

werdet alle n’bisschen paranoid

– Paranoia macht im Leben echt den Unterschied!

 

Die Wahrnehmung wechseln, das ist gar nicht teuer

Und es funktioniert auch ungeheuer

easy, – he, also legt doch dein Steuer

innerlich um: mal so voll auf Paranoia.

denn:

Neben der Wahrnehmung, da geht es weiter,

steig doch einfach mal in so ’nen Para-Gleiter

breit deine Arme aus, schrei und genieß

jetzt den Blindflug ins Paranoiaparadies.

 

Para-Para-Para-Paranoiaparadies

Para-Para-Para-Paranoiaparadies

Para-Para-Para-Paranoiaparadies

Alles wird gut im Paranoiaparadies!

Usw. usf. – Paranoia-Widerstand 2020

 

Die Menschen vor der Bühne sind irritiert, einige applaudieren etwas verstört, andere beginnen schon zu buhen und zu pfeifen, hinten skandiert ein Mann: „Volksverräter! – Der hat Geld von Bill Gates gekriegt!“ und ganz rechts schreit schon jemand „Judensau! Aufhängen!“

Natascha-Lou hat die Brisanz der Lage augenblicklicher gecheckt, schnappt sich das Mikrofon: „Liebe oder Angst!“ ruft sie der Volksmenge beschwichtigend zu und versucht mich zu unser aller Sicherheit von der Bühne zu zerren, aber ich bin wie im Rausch – THC macht‘s möglich.

„Komik ist Wahrheit und Schmerz“ rufe ich, entwinde Natascha-Lou das Mikro aus der Hand und schreie hinein: „Wir sind das Volk!“ „Ich weiß alles“ schreie ich und „Freiheit!“ schreie ich und: „Es setzt sich nur soviel Wahrheit durch, wie wir durchsetzen; der Sieg der Vernunft kann nur der Sieg der Vernünftigen sein. – Bertolt Brecht“ schreie ich und dann fange ich auch schon an, mein ultimativ drittes und letztes Corona-Verschwörungs-Selbstheilungs-Lied zu singen. Es heißt:

 

Schöner verschwören, Schöner verschwören,

 

Schöner verschwören, Schöner verschwören,

Phantastische Welten soll’n uns betören

Ach wenn wir doch nur das Bewusstsein verlören.

Jenseits des Realitätsprinzips

Schöner verschwören macht den Unterschied

 

Gegen all diese Ängste, die sie uns täglich machen

Helfen nur schöne, selbst ausgedachte Verschwörungs-Sachen

Die Feuerwerke in un-ser‘n Synapsen entfachen

Also lasst Euch was einfallen, lasst es voll krachen

So bashen wir wirklich das System

Und machen Corona endlich ungeschehen

Obwohl‘s das ja gar nicht gegeben hat

Sagt Lord Voldemort, der ist Illuminat

und außerdem ist er Bill Gates seine Frau

und als solche spielt er gerade auf der dunklen Seite des Mondes zusammen mit Florian Silbereisen, Xi Jinping, Wladimir Putin und Christian Drosten gegen die Galaktischen Förderation Quidditch mit einer 100er-Packung Corona-Impfdosen als Schnatz. Und der Preis, um den es bei dem ganzen Spiel geht, ist natürlich die BRD GmbH, was sonst.

Schöner verschwören, Schöner verschwören,

nichts ist, wie es scheint, lasst Euch verstören

alles ist umgekehrt, darauf könnt ihr schwören

auch in diesem Lied: Carotin enthält Möhren

 

aber wem soll man dann noch glauben? – werdet ihr fragen

zwischen all diesen krassen Fiktionen und Sagen

Wem soll man vertrauen? – Was sagt Whatsapp dazu:

Traut keinem Fremden außer Xavier Naidoo

– sagt auch Telegram und:

Schöner verschwören schöner verschwören

Beim Schöner-Verschwören lasst Euch bitte nicht stören

Und wenn Euch selber nichts einfällt

Sprecht mit Euren Frisören

Oder mit Verschwörungstheorie-Konditeuren

Und werdet selbst zu Paranoia-Monteuren

Und dann singen wir zusammen wie kommunizierende Röhren

Wir sind einer von 1000 Verschwörungs-Chören

Und wir singen, was wir fühlen und das very true

Wir singen so soulig wie Xavier Naidoo:

– und wir singen folgendes:

Ich weiß alles, ich weiß alles,

aber Ihr – Ihr wisst nichts!

Yeah!

Love!

 

ZUGABE:

Die SPOKEN-&-SINGING-WORD-FASSUNG dieses Textes gibt es bei Youtube hier zu sehen:

 

1.9.2019 / 19.30 Uhr / NBL / Leipzig: „! MACHTÜBERNAHME !“ – Show Down Poetry & Trauma-Salon zur Landtagswahl

mit Kurt Mondaugen, Hauke von Grimm (Lesebühne Schkeuditzer Kreuz), Thomas Hoffmann (slippery-slopes.de) u.v.a.
ANSCHLIESSEND: KONZERT mit
 DIE ZUCHT (Leipzig 1984/2019)

 

MACHTÜBERNAHME_Foto

„Sprachlos war gestern! & Und niemand will an diesem Abend wirklich allein sein!“ – konstatiert Kurt Mondaugen hinterm Hochrechnungstresen und lädt zusammen mit ein paar literarischen Freunden ein, am Wahlabend die politischen Realitätstraumata dieses Landes gemeinsam live zu bearbeiten, zu philosophieren und waghalsige Visionen zur Gegenmachtergreifung an den Horizont zu pinnen.

Anschließend: Konzert mit DIE ZUCHT (Leipzig 1984 – Vorgängerband von DIE ART) mit: Thomas Stephan (Schlagzeug), André Friedrich (Gitarre), Makarios (Gesang) und Christoph Heinemann (Bass)“ – Erster Auftritt seit 35 Jahren!

Das alles im Salon des Noch besser leben in Leipzig-Plagwitz.

Eintritt frei für alle!

INTERVIEW MIT STADTMAGAZIN FRIZZ

www.nochbesserleben.com

www.kurt-mondaugen.de

www.slippery-slopes.de

 

 

Die Machtfrage

Bild Machtfrage klein

Domm! … Domm! … Do-Dommm! … Domm! …

„Da haben wir den Salat, Kurt“, flüstert meine therapeutische Freundin Natascha-Lou Salomé. Sie ist mit einer Rot-Kreuz-Binde um den Arm und einem Beutel voll Inkontinenz-Windeln in der Hand im Schatten der Dunkelheit von hinten zu mir herangerobbt. Über uns hinweg pfeifen Gummigeschosse und auch immer mehr echte Kugeln und sogar Mörser, die in die Fassade des Mietshauses hinter uns einschlagen.

„Ja, da haben wir den Salat“ flüstere ich kleinlaut zurück und meine Stimme zittert. Es ist kurz vor Mitternacht, und ich fürchte wirklich, dass ich mich vor Angst gleich einscheißen werde, denn dies hier ist keine Laser-TagVeranstaltung und auch kein Computerspiel, sondern ich liege hier tatsächlich mit ein paar dutzend anderen Hipstern, Gentrifizierungsgegnern, Salonrevolutionären, Anarchisten, Kommunisten und Klima-Rebellen unter echtem Feuerbeschuss – schlotternd und nur notdürftig bewaffnet hinter einer spontan errichteten Straßen-Barrikade an der Karl-Heine-Straße/Ecke Merseburger in Plagwitz. Und wir versuchen, die vor nicht einmal 24 Stunden – nach einem außer Kontrolle geratenen Diskussionsabend im Salon des Noch besser leben – spontan ausgerufene Freie Autonome Räte-Republik Plagwitz/Lindenau vor den heranrückenden bis an die Zähne bewaffneten Truppen des sächsischen Innenministeriums und den mit ihnen verbündeten Freikorps von Pegida aus Dresden zu verteidigen. Aber die sind leider in zehnfacher Übermacht.

Und während Natascha-Lou mir jetzt also im Liegen die Windelhose überstreift, um mich vor den peinlichen Folgen des Einscheißens im Barrikadenkampf zu bewahren, und dabei leicht vorwurfsvoll den Kopf schüttelt, denke ich, dass ich mal lieber wirklich gestern hätte auf sie hören sollen, als sie am frühen Abend an meiner Wohnungstür klingelte und mich eindringlich davor gewarnt hat, aus Anlass des 100. Jahrestages der Novemberrevolution diesen Philosophie-Salon im Noch besser leben anzuzetteln – mit dem Titel „Demokratie und/oder Revolution? – FRAGEZEICHEN“. – „Kurt, man weiß nie, was bei so einem Thema für Leute auftauchen, um sich mal gegenseitig die Meinung zu sagen oder um Stimmung zu machen oder um irgendwelchen Aufruhr zu stiften“, hat Natascha-Lou gesagt, „und von wem das dann alles im Hintergrund beobachtet oder gelenkt oder instrumentalisiert wird. – Verfassungsschutz, KGB, CIA – Das weiß man in solchen Fällen nie genau, Kurt. Und die psychologische Eigendynamik von solchen Veranstaltungen ist sowieso unkalkulierbar. Und am Ende gibt es Mord und Totschlag, wie 1918/1919. Echt, lass das mal lieber!“

„Ah: no risk – no fun!“, hab‘ ich Natascha-Lous Warnung gestern Abend flapsig in den Wind geschlagen. „Wir leben doch in einer Demokratie, da muss man doch echt mal noch über alles öffentlich reden oder philosophieren dürfen!“ Und dann hab‘ ich sie stehen lassen und bin zusammen mit einem meiner besten Plagwitzer Bohemien-Freunde, der sich den expressionistischen Kampfnamen Ernst Toller gegeben hat, Richtung Noch besser leben aufgebrochen.

Und obwohl noch über eine Stunde Zeit war bis zum offiziellen Veranstaltungsbeginn, war der Laden als wir ankamen schon rappelvoll und die Stimmung irgendwie … aufgeheizt. Und spätestens da wäre die letzte Chance gewesen, die ganze Sache abzublasen, aber naiv wie ich war, habe ich stattdessen das Mikro angeschlossen und angefangen drauflos zu sprechen, dass wir aus Anlass der Revolution von 1918 heute mal ganz unvoreingenommen über das Verhältnis von Demokratie und Revolution an sich diskutieren wollen und dass jeder seine Meinung dazu freimütig äußern dürfe, weil das sei ja die Grundvoraussetzung für jedes Philosophieren und ob es jemanden im Raum gäbe, der das Gefühl hätte, wir würden heute auch gerade mal wieder irgendwie in einer Art revolutionären oder wenigstens vorrevolutionären Situation leben so wie damals 1918 oder 1989 und ob es nicht auch in einer Demokratie wie dieser hier nötig sei, sie immer mal wieder  revolutionär aufzufrischen…

Und schon brach der Sturm los. Jemand pfiff laut durch die Zähne, schwenkte das Kommunistische Manifest durch die Luft, und rief „Fuck Kapitalismus! Wir haben nichts zu verlieren, als unsere Ketten!“ Und dabei er zerriss demonstrativ seinen aktuellen Hartz IV-Bescheid und anschließend wegen des Dieselskandals auch noch die auf A4-Zettel ausgedruckten Logos sämtlicher deutscher Autokonzerne. Ein zweiter Salonbesucher reckte Stéphane Hessels „Empört Euch!“-Manifest in die Höhe und skandierte: „Neues schaffen heißt, Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt, Neues schaffen.“ Und dann zerriss er das aktuelle Mieterhöhungsschreiben für seine Wohnung und anschließend nacheinander die Logos von Facebook, Google und Amazon. „Scheiß-Datenkapitalismus!“

Und ein kleiner alter Mann mit spitzem Bart, der ein bisschen wie eine Mumie aussah, skandierte: „Man müsste die alle an die Wand stellen!“, während ein Vierter unter allgemeinem Gejohle die Gesammelten Schriften von Bakunin und ein Fünfter gar das Grüne Buch von Gadaffi durch die Luft schwenkten.

Bis sich eine Frau meldete und mit betont friedvoll gedimmter Stimme erklärte, sie sei GFK-Trainerin und prinzipiell eher so gegen Gewalt – egal ob mit Waffen oder mit Worten – und man würde doch sehen, wo das am Ende immer hinführt: Gulag oder KZ. Und das mit dem ‚An-die-Wand-stellen‘ sei im Übrigen sowieso nur so ein beklopptes Männerding aus dem vorigen Jahrhundert. 1989 hätten sie das schließlich auch alles ohne Schießen und Gewalt hingekriegt: ‘ne friedliche Revolution, die eine beschissene Diktatur eins, zwei, fix in eine Demokratie verwandelt hat, sagte die Frau, die natürlich Natascha-Lou war, wie ich erst jetzt checkte.

Und für einen kurzen Moment hielt die Salon-Versammlung tatsächlich schweigend und irgendwie nachdenklich inne, bis der kleine Mumien-Mann mit Bart leise aber bissig antwortete: „… und wo hat das mit 1989 hingeführt: zu Hartz IV und Gentrifizierung und Bienensterben. Schöne friedliche Revolution war das!“ Und schon sprang jemand aus der Gießer 16 zum Mikrofon und rief: „Jawoll und Demokratie hin oder her!“ – Er heiße Gustav Landauer, sei lokaler Anarchist der ersten Stunde, und er müsse sich jetzt ausnahmsweise mal selbst zitieren, beziehungsweise das, was er schon 1919 bei der revolutionären Errichtung der Münchner Räterepublik ausgerufen habe:

„Sorge jede Generation tapfer und radikal für das, was ihrem Geist entspricht, es muss auch später noch Grund zu Revolutionen geben; und sie werden dann nötig, wenn neuer Geist sich gegen starr gewordene Residuen verflogenen Geistes wenden muss […]. Das brauchen wir wieder: eine Neuregelung und Umwälzung durch den Geist, der nicht Dinge und Einrichtungen endgültig festsetzen, sondern der sich selbst als permanent erklären wird. Die Revolution muss ein Zubehör unserer Gesellschaftsordnung, muss die Grundregel unserer Verfassung sein.“

Woraufhin der ganze Raum wild zu applaudieren begann. Der kleine Mann mit dem Bart hatte inzwischen die Fenster zur Straße hin aufgerissen, so dass sich unten eine kleine Menschenmenge vorm Noch besser leben zu versammeln begann, die schnell größer wurde, weil wegen des Krachs auch die Besucher_innen sämtlicher umliegender Plagwitzer Hipster-Kneipen herbeigeströmt kamen und einfach mal spontan mitapplaudierten, obwohl sie noch gar keine Ahnung hatten, worum es hier ging, aber so sind Hipster eben.

Und dann schnappte sich der kleine Mann mit Bart selbst das Mikrofon, schob die Lautsprecherboxen auf die Fensterbank und skandierte: „Leute, lasst euch nicht verarschen, am Ende geht es doch immer nur um die Macht!“ Und er sei Berufsrevolutionär und heiße mit Kampfnamen – nun ja – Lenin, und er wäre gerade erst vor zwei Stunden mit einem verplompten Eisenbahnwaggon von seinem Moskauer Mausoleum kommend auf dem Bahnhof Plagwitz eingelaufen, und nur deswegen sähe er vielleicht so komisch aus. Und dass die ganze Demokratie überhaupt und auch das, was wir hier gerade so veranstalten würden, nur so eine verdammte Schwatzbude sei, und dass für philosophisches Salon-Gelaber verdammt noch mal jetzt keine Zeit mehr bliebe! „– Die Welt ist am Abkacken, Leute, wegen dem Scheiß-Kapitalismus! Spürt Ihr das nicht alle, Dudes und Towarischi‘s?“ Und Lenin stand im Fensterrahmen, starrte mit funkensprühenden Augen abwechselnd zu uns in den Salonraum und runter zu den Volksmassen auf der Straße und schrie sich immer mehr in Rage: „Wir müssen jetzt unverzüglich handeln“, schrie er wie damals vor hundert Jahren in Petrograd und dass die Befreiung der Unterdrückten unmöglich sei ohne Vernichtung des Staatsapparats der herrschenden Klasse. – „Die Ablösung des bürgerlichen Staates durch den proletarischen ist ohne gewaltsame Revolution unmöglich.“

Und die Volksmassen unten auf der Straße und oben im Salon jubelten ihm zu, zumindest ein wenig. Und ich als Moderator des Abends fühlte mich jetzt doch irgendwie ein bisschen verantwortlich für die ganze Sache und dass sie nicht aus dem Ruder liefe und wollte zu bedenken geben, dass ich Lenins Darstellung der Lage ein ganz klein bisschen unterkomplex fände. Wegen der aufgeheizten Stimmung versuchte ich es dann aber doch lieber mit einem spontan selbst ausgedachten selbstironischen Bohemien-Revolutionslied. Und das Lied hieß:

 

Lob des Kommunismus – oder: Wir werden die Macht übernehmen

 

Wir werden die Macht übernehmen

Gleich am Montag und alles wird gut

Und wir werden euch im Geschichtsbuch erwähnen

Wenn ihr es zusammen mit uns tut

 

Wir werden die Macht übernehmen

Von dem verdammten Finanzkapital

Und wir werd’n den Scheiß-Managern sagen

Jungs, das war’s dann erstmal.

 

Wir werden die Macht übernehmen

Wie einst Lenin und Mao Tse Tung

Und wir drehen ganz laut die Sirenen

Für die Kollektivi-hi-hihi-hihierung

 

Die Kollektivierung des Bieres

Und die Kollektivierung der Frau’n

Die Kollektivierung der Gedanken

Vielleicht auch, da werd’n wir noch mal schau’n

 

Wie’s dann aussieht, wenn alle gleich aussehen

Und wenn ihr auch alles voneinander wisst

Jedenfalls: es kann alles nur besser werden

Wenn das Machtding neu geregelt ist

 

Darum lasst uns die Macht übernehmen

Gleich Montagfrüh und alles wird gut

Schnell bevor wir’s uns recht überlegen

Und bevor’s jemand anderes tut.

 

 

Aber die Leute schienen das mit der Ironie in dem Lied nicht zu verstehen, denn kaum hatte ich geendet, brach ein krasser Jubelsturm los. Und Lenin küsste mich und riss mir zugleich das verdammte Mikro aus der Hand und brüllte: „Nicht erst bis Montag warten, Leute, Dudes!  Jetzt gleich! Auf zum Polizeirevier Plagwitz! Entwaffnen wir die Scheiß-Staatsmacht, für immer! Genossen! Towarischi`s!“

 

 

Teil 2

Die Machtfrage / Teil 2

Und schon fünf Minuten später lief unser revolutionärer Demonstrationszug mit mir und Lenin an der Spitze singend – „… wir werden die Macht übernehmen…!“ – und schunkelnd die Weißenfelser Straße runter zum Plagwitzer Bullen-Hauptquartier. Die Bullen waren mit dem nächtlichen Auftauchen von ein paar hundert machthungrigen Hipstern und Salonrevolutionären samt kommunistischer Mumie an der Spitze völlig überfordert und händigten Lenin persönlich sofort all ihre Waffen und Schlagstöcke aus, um sich anschließend schleunigst in Zivilkleidung Richtung Kleinzschocher abzusetzen. Und der ganze Revolutionszug brach deswegen erneut in ohrenbetäubenden Jubel aus. Und jemand brüllte: „Zurück zum Noch besser leben!“ Und: „Schließt Euch an!“ Und: „Freibier für alle!“ – Woraufhin die ganze Revolution schnell auf über tausend Leute anwuchs, die schließlich in einem finalen Jubelsturm endete, als Lenin persönlich punkt 24 Uhr vom Erker-Fenster des Noch besser leben aus auf der Karl-Heine-Straße den Sieg der Revolution und die Errichtung der Freien Autonomen Räterepublik Plagwitz-Lindenau verkündete. Und dann ernannte er sich selbst zum Volkskommissar für Bewaffnung und Verteidigung, und meinen Freund Ernst Toller zum Volkskommissar für Re-Gentrifizierung, Freibier, Soziales und alles Andere und mich zum Volkskommissar für Kampflieder – und das Noch besser Leben zum Sitz des Zentralrats der Revolution. Und dann wir feierten wir die ganze Nacht.

Am nächsten Morgen begann um sieben Uhr früh die Arbeit, weil Lenin das so bestimmt hatte und tatsächlich schon ein Haufen Leute vor der Tür standen, die alle irgendwas von uns als Revolutionsrat wollten. und die meisten wollten natürlich Ernst Toller sprechen, weil der nach Lenins Ressortaufteilung eigentlich für alles zuständig war, was nicht mit Kampfliedern oder Waffen zu tun hatte.

– Mein Job bestand erstmal nur darin, die Revolutions-Hymne noch einmal live für einen illegalen anarchistischen Plagwitzer Radiosender einzusingen. Anschließend musste ich ein paar Autogramme für die üblichen Revolutionsgroupies aus Connewitz, Reudnitz und aller Welt schreiben, die inzwischen eingetrudelt waren. Kurz vor Mittag war mein Job erledigt und ich ging nach Hause, um meinen Rausch auszuschlafen. Aber irgendwann am späten Nachmittag klingelte mich Ernst Toller aus dem Bett und flehte mich durchs Telefon an, bei ihm sei Land unter und ich möge doch schnell ins NBL zurückkommen, um ihm mit den ganzen Besuchern zu helfen, die alle etwas von ihm und der Revolution wollten. Und es sei inzwischen genau wie damals in München 1919, als er schon einmal so einer Autonomen Räterepublik vorgestanden hat. Doppelpunkt:

„In den Vorzimmern des Zentralrats drängen sich die Menschen, jeder glaubt, die Räterepublik sei geschaffen, um seine privaten Wünsche zu erfüllen. Eine Frau möchte sofort getraut werden, bisher hatte sie Schwierigkeiten, es fehlten notwendige Papiere, die Räterepublik soll ihr Lebensglück retten. Ein Mann will, dass man seinen Hauswirt zwinge, ihm die Miete zu erlassen. Eine Partei revolutionärer Bürger hat sich gebildet, sie fordert die Verhaftung aller persönlichen Feinde, früherer Kegelbrüder und Vereinskollegen. Verkannte Lebensreformer bieten ihre Programme zur Sanierung der Menschheit an […]. Die einen sehen die Wurzel des Übels im Genuss gekochter Speisen, die anderen in der Goldwährung, die dritten im Tragen unporöser Unterwäsche […].“

„O.K.“, murmelte ich, und beschloss, meinen Freund Ernst Toller mal nicht hängen zu lassen, weil er mich auch schon öfter mal nicht hängen gelassen hatte und mir zum Beispiel regelmäßig als Ghostwriter aushilft, wenn mir für ‘nen Auftritt mit der Lesebühne Schkeuditzer Kreuz mal kein eigener Text einfällt. Und ich machte mich also mit müden, noch halb zugekniffenen Augen wieder auf den Rückweg zum Noch besser leben.

Aber schon, als ich da ankam, sah ich, dass Lenin vorm Eingang des Revolutions-Hauptquartiers Waffen an Freiwillige verteilte, und ich ahnte nichts Gutes. Und unversehens drückte Lenin auch mir eine Schreckschusspistole und Pfefferspray aus den geplünderten Plagwitzer Polizeibeständen in die Hand. Und er befahl mir, ich solle mit den anderen Freiwilligen der revolutionären Garde an der nächsten Straßenecke fix eine Barrikade errichten, denn von Kleinzschocher her würden schon die schwer bewaffneten marodierenden Nazi-Freikorps von Pegida und das Dresdener Innenministeriums anrücken, um unsere junge Räterepublik zu liquidieren. Und wir sollten in jedem Fall zurückschießen, und keinen Fußbreit zurückweichen, das seien wir unserer Sache schuldig, rief Lenin auch noch, während er selbst in Richtung Bahnhof Plagwitz davoneilte, um etwas Wichtiges zu erledigen, wie er mir von Ferne noch winkend zurief und dabei die Melodie von „Wir werden die Macht übernehmen“ durch die Zähne pfiff. Und in diesem Moment hatte ich das ungute Gefühl, dass ihn gestern vielleicht doch der CIA oder der KGB oder Georg Maaßen oder alle drei zusammen in Plagwitz eingeschleust hatten, um diesen ganzen bekloppten Umsturzversuch hier auszulösen und um endlich mal einen Grund zu haben, so richtig draufschlagen zu können.

Und deshalb liege ich jetzt also hier zusammen mit den anderen verbliebenen Salonrevolutionären von gestern und mit Natascha-Lou als Rot-Kreuz-Helferin hinter der verdammten Barrikade und die Schüsse und die Detonationen der Mörsergranaten kommen immer näher: Domm! … Domm! … Do-Dommm! … Domm! … Dommmmmmm!

– Und gerade eben, beim letzten Dommmmmmm! habe ich mich wirklich vor Angst eingeschissen. Und ich danke Natascha-Lou leise aber mit Inbrunst dafür, dass sie mich kurz zuvor frisch gewindelt hat. Und ich greife ihre Hand und flüstere ihr zu, sie solle um Himmels Willen jetzt nicht weggehen oder wegrobben und dass ich doch eigentlich immer schon innerlich Pazifist gewesen sei oder höchstens Salonrevolutionär und nix mit Waffen am Hut gehabt hätte, noch nie, das wisse sie doch auch…!

Aber in diesem Moment schlägt ein Granate direkt in der Barrikade vor uns ein und  zwei Dutzend Mörserschrapnells pfeifen nur ein paar Zentimeter neben unseren Köpfen vorbei, und wir hören, wie die Leute links und rechts von uns wie am Spieß zu schreien beginnen. Und ich flehe Natascha-Lou an: „Kannst du denn gar nichts tun, verdammt – so als Therapeutin für gewaltfreie Kommunikation?! Fällt Dir nicht irgendwas ein, um das Blutbad hier zu beenden?! … Ein Bed-Infür-den-Frieden zum Beispiel, wie damals Yoko Ono mit John Lennon gegen den Vietnamkrieg!?“

Aber Natascha-Lou verdreht nur genervt die Pupillen. „O.k., ich robb‘ jetzt mal besser zurück, Kurt, du mein mutiger Volkskommissar!“ Dann schaut sie mir aber doch noch ein letztes Mal lange und tief in die Augen, während der Mörserhagel immer infernalischer wird: Dommmmmmm! Dommmmmmm! Dommmmmmm! Dommmmmmm! – Und ich werde diesen Blick mein Leben lang nicht mehr vergessen, denke ich in diesem Moment. Aber mein Leben wird sowieso keine fünf Minuten mehr dauern, denke ich im nächsten Moment gleich hinterher, und eine Träne rollt mir übers Gesicht.

Und eine Träne rollt jetzt auch über Natascha-Lous Gesicht. „Na gut“, flüstert sie, „ich kann Euch ja hier wirklich nicht alle einfach so verrecken lassen!“ Und sie denkt kurz nach, ihre Pupillen rollen wild in den Augenhöhlen, und dann ruft sie laut und schon halb mit  Obertongesang: „Ich glaube, da kann nur Schamanismus helfen oder eine Bewusstseinsrevolution oder Karl Marx. Oder am besten alles Drei‘s zusammen.“

Und sie wirft sich ein Kostüm aus Rabenfedern und einen Blauhelm mit Elchgeweih über, erklimmt mitten im Kugel- und Granatenhagel die Barrikade und deklamiert, während die Mörser und Gewehrschüsse plötzlich verstummen und stattdessen weißer Beifußrauch aufsteigt, die berühmte schamanistische Beschwörungsformel des bekanntesten Revolutionstheoretikers der Weltgeschichte:

„Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen, gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neuen Weltgeschichtsszene aufzuführen.“ (Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Vorrede zur 3. Auflage, MEW, Band 8, S. 115)

Alles über Wald / Sommer 2018

 

wald und mondaugen

Hitze, Hitze, Hitze, dieser Sommer ist eine verdammtes Hitzenirwana und das einzige was einem bleibt, ist eine kleine Sommerdepression mit zugezogenen Vorhängen oder unter die Dusche zu gehen oder irgendwelche Geschichten zu schreiben, in denen diese Hitze nicht vorkommt, Geschichten, in die man endlose Regengüsse und Gewitterstürme zu therapeutischen Zwecken hineinschicken oder die einen zur Abkühlung tief in den Wald oder in den eigenen Schatten hineinführen wenigstens oder beides oder alles zusammen. Aber man schafft es nicht, man döst mitten im Schreiben immer wieder weg zwischendurch wegen der verdammten Hitze und die Texte, die in diesem Sommer 2018 entstehen, werden alle irgendwie porös, kriegen irgendwelche beinahe schamanistischen Leerstellen: Perforiertes Bewusstsein im Plot, unerklärliche Handlungsbrüche, das plötzliche Auftauchen und ebenso plötzliche Wieder-Verschwinden von Gegenständen, Dingen und Menschen, die in unserem Leben eine Rolle spielen oder eben keine Rolle mehr spielen und deren Verknüpfungen man sich als Leser oder Zuhörer dieser überhitzten Texte am Ende selber mit der eigenen Phantasie zusammen-imaginieren muss. Texte wie dieser hier  zum Beispiel entstanden in diesem delirierenden Sommer 2018:

 

Alles über Wald – Ein Hitzetrip in 7 Akten

 

Alles über Wald 1:

Sex und Drugs in den Fichten – Ein Gedicht

Schlaf mit den letzten Koniferen

Bevor der Waldbrand kommt

Und wenn du denkst, dass sie es wären

Und wenn du denkst, dass sie es wären

Schlaf mit den letzten Koniferen

Bis auch du so ein krasses Nadelkleid bekommst

 

Zeichen Dusche Wald_klein

Alles über Wald 2:

Wald als Eigenschaft

Eichen, Eschen, Erlen, Linden, Buchen, Fichten, Kiefern, Lärchen, Tannen

Die am meisten unterschätzte

Eigenschaft in uns allen

Ist Wald

Ist Waldboden voller Laub oder Kiefernnadeln

& ist eine waldige Kupfersaal-Festbeleuchtungs-Lichtung im Morgengrauen

Und ist Erinnern an endlos kühle Regenschauer

Unter den tropfenden Koniferen unserer Kindheit oder Jugend

In der Provinz

die wir jahrelang überdauerten

Mit Waldakrobatik und Dehnungsübungen,

und später mit erstem hilflosem Sex

zerstochen auf diesem Waldboden

von Mücken und Kiefernnadeln

gegen den waldumstandenen Horizont

der deutschen Provinz

und dabei groß wurden

irgendwo im Wald hinter Köthen oder Chemnitz

und selber benadelte Koniferen wurden und irgendwann

doch weggingen aus diesem Wald

in die große Stadt

um uns selbst besser kennenzulernen

oder um irgendwas mit Medien zu studieren

oder Popkultur erinnern wir uns

wie wir dem Wald leise

„Abschied“ sagten „- ist ein scharfes Schwert!“ –

mit einer zerkratzten Schallplatte aus dem Plattenschrank unserer Eltern

Roger Whittaker

damit er nicht traurig wäre

oder weggebaggert würde

dieser Heimat-Wald in der deutschen Provinz

inzwischen wegen der ganzen Braunkohle

ein paar Winter lang oder Jahrzehnte lang später

als wir dann nicht mehr zurückkehrten

und am Horizont der Großstadt vom Café Waldi aus zu sagen lernten,

mit einem Gin Tonic in der Hand

gechillt und semantisch reflektiert

zu sagen lernten – DOPPELPUNKT:

„Wald ist nur ein Wort

mit vier Buchstaben

so ähnlich wie GOTT!“

 

 

Alles über Wald 3:

Waldausflug oder In-die-Pilze-gehen – eine wahre Begebenheit

Wald ist nur ein Wort, denken wir, mit vier Buchstaben – so ähnlich wie GOTT – und nur auf Deutsch auszusprechen, ein deutscher Wald mit deutschen Gefühlen, denken wir in diesen Sommer im Bett liegend, meine Freundin Natascha-Lou und ich, in der Hitze unseres Zimmers, fünf Stockwerke über Plagwitz oder Connewitz oder Reudnitz bei 37 Grad im Schatten, und erinnern uns wehmütig zurück an den dunklen Wald unserer Kindheit, hinter Köthen oder Chemnitz. „Alles Gute kommt aus dem deutschen Wald“, sagen sie gerade in der Tagesschau in Chemnitz, mit arischer Blutlinie.

„Mit deutschen Gefühlen zurechtkommen bei dieser Hitze – auch dafür ist Wald ein Wort, murmle ich.

„Wie Hitze eigentlich auch nur ein Wort ist?“ – murmelst du – oder hoffst du vergeblich diesen ganzen Sommer lang, apathisch bei 37 Grad im Schatten, zusammen mit mir auf dem Bett dösend in der Gluthitze über Plagwitz oder Connewitz oder Reudnitz! Und es gibt doch einen Unterschied zwischen Worten und Wirklichkeit, und der trieft aus den Poren unserer transpirationsüberfluteten Körper

„Nur echter Wald kann uns vor Hitze schützen“, sage ich.

„… oder Duschen vielleicht auch?!“, sagst du.

„… und vor Sonnenbrand“, sage ich

„…aber nicht vor Waldbrand“, sagst du, „leider!“

… Bis wir dann doch noch einen Anruf von Freunden bekommen, ob wir bei der Hitze nicht mal mit raus aus der Stadt fahren wöllten: In die Pilze gehen! – Ein Vorschlag den wir gerne annehmen, Natascha-Lou und ich, ohne weiter drüber nachzudenken – Oder dann doch, aber da sitzen wir schon alle zusammen in diesem alten bunt angemalten Hippie-VW-Bus aus den 70ern mit all unseren auf ihren Handys zockenden Kindern, die wir nicht in die Schule geschickt haben, um sie nicht schon zu früh hinein zu sozialisieren in diese verdammte neoliberal-faschistische Leistungsgesellschaft – aber das ist ein anderes Thema.

„Wachsen bei dieser Trockenheit überhaupt Pilze im Wald?“ frage ich irgendwann dann doch noch nach zur Sicherheit, was allgemeine Erheiterung auslöst bei unseren Freunden, die doch schon ewig damit herumexperimentieren mit Fliegenpilzen und Magic Mushrooms und Ayahuasca-Ritualen, um ihr Bewusstsein zu erweitern oder die Hitze zu integrieren. Dann später angekommen in einem psychedelischen Waldstück irgendwo hinter Stahmeln oder Lützschena gehen wir wirklich in die Pilze und haben alle zusammen irgendwelche bildgewaltigen Hippie-Durchbrüche im Unterholz unseres Unterbewusstseins oder im Sternburg-Wald, wie wir ihn nennen, weil wir dann doch noch Bier nachgießen auf die Pilze und auf den psychedelischen Schreck, weil alles so blau aussieht plötzlich wie bei Neo Rauch in Bayreuth. Und unsere zockenden Kinder schauen jetzt doch mal kurz von ihren Smartphones hoch und mustern uns, als wären wir irgendwelche krassen Fabelwesen aus Harry Potter.

 

Alles über Wald 4:

Waldausflug – Fortsetzung mit Tieren

Einhörner sieht man jetzt immer seltener im Wald, höre ich mich sagen, es sei denn, man kommt an einen Waldsee und wir kommen bei unserer Pilzwanderung jetzt wirklich an einen Waldsee mit angeschlossenem Campingplatz bei Klein-Liebenau kurz vor der Autobahn, und wir sehen wie in einer Art magischer Prozession hunderte Rentner-Dauercamper zusammen mit ihren Enkelkindern hunderte aufblasbare Schwimmhilfen der Badesaison 2018 ins Wasser schieben: gigantische rosa Einhörner, die von dröhnenden Elektroluftpumpen angetrieben ihre Hälse vier, fünf, sechs Meter hoch in die Waldluft recken und dann über den See schwimmen – wirklich wie in Hogwarts.

„Wald ist immer ein Ausdruck der eigenen Gefühle“, sagt Natascha-Lou, und wir tauchen zwischen diesen ganzen Einhörnern und Rentnern und Kindern hindurch auf diesen Waldsee hinaus und die Sonne schmiert hoffentlich langsam ab, bete ich voll Inbrunst, und:

Ja meine Gefühle sind manchmal wirklich wie ein Wald, denke ich, den ich wegen der Hitze vor Bäumen nicht sehe oder mit meiner Kindheit verwechsle. Die Geschichte von Rotkäppchen zum Beispiel: Meine Mutter hat mich echt wegen meiner ganzen Locken schon mit drei Jahren als Rotkäppchen verkleidet zum Kindergartenfasching sozusagen in den Wald geschickt. – „Ach der Kleine sieht so süß aus!“ – Und mein älterer Bruder durfte als der böse Wolf gehen. – „Es gibt da ein Problem, tief in mir drin deswegen bis heute“, sage ich: „Ich bin ein Leben lang verwechselt worden. Eigentlich bin ich der Wolf!“

„Ja“, sagst du, „bei Wald kann es echt leicht zu Verwechslungen kommen, wie bei Nietzsche, denn Wald ist nicht gleich Wald – steht schon bei Wikipedia geschrieben“, sagt Natascha-Lou, „schon seit ein paar Jahrhunderten vor Christus – in Aramäisch, ich zitiere – DOPPELPUNKT: Es gibt Laubwald und Mischwald und Nadelwald und Regenwald, aber Regenwald leider nicht bei uns, zumindest nicht diesen Sommer. Und es gibt Eukalyptuswald, wo die Bonbons den Kindern in den Mund fallen, wenn sie nach oben gucken!“, flüstert Natascha-Lou verträumt und ihre Augen drehen sich erwartungsfroh gen Himmel … – umsonst.

„Und wusstet Ihr, der Wald ist jetzt neuerdings auch bei Youtube und hat einen eigenen Kanal, und er postet Dinge über sich, die man lieber nicht sehen möchte…“, sagen plötzlich unsere Hippie-Freunde von Friends of the Earth oder Greenpeace, „Waldsterben zum Beispiel und Brandrodung und Waldbrand! – Wald 007 – Bitte kommen! Wir haben einen Auftrag für Sie!

„Yo! COzwei“, sagt der Wald, „ist jetzt mein Ding, ich binde das überflüssige COzwei für Euch, damit nicht noch mehr Hitze kommt und Klimakollaps.

„Ja danke“, sagen wir, „danke, Wald!“ Und: wow!, denken wir: wir können plötzlich wieder echt: „Ja, danke“ sagen, so wie früher in unserer totalitären Kindheit. – Wald sei Dank!

und wir wundern uns ein bisschen über uns und was der Wald mit uns macht auf diesem nicht enden wollenden Wald-Pilz-Trip in diesem Sommer 2018.

Aber der Wald hat auch noch andere Tiere in sich drin als Wölfe und Einhörner, bemerkt Natascha-Lou später am Rand einer Lichtung, als die Sonne sich dann langsam doch noch bemüht, irgendwie unterzugehen.

„Ja, ja, das mit dem Untergehen kann man ja bei der Affenhitze schon mal kurz vergessen zwischendurch, sorry Alter“, schreit die Sonne, „Starrt mich mal bloß nicht alle so an!“

„Wir sind ja schon still!“, summen wir

„Summ Summ Summ“ –

Wie Waldbienen zum Beispiel auf Honigfang

 

 

Alles über Wald 5: Wald aus Bienen – ein Rettungseinsatz-Gedicht

Summ Summ Summ …

Und als wir den Bienen im Wald

ein neues Zuhause gaben

mit unseren Körpern

Ein neues zu Hause gaben

Und sie in uns hineinfliegen ließen

Und sie in uns hineinstechen ließen

Und kleine anaphylaktische Schocks auslösen ließen in uns

Um unsere Körper zu testen

Bevor noch der Winter kommt

Oder um unsere Kinder zu testen

Bevor noch der Winter kommt

Und wie sie darauf reagieren würden

wenn unsere Arme und Beine und Körper plötzlich

anzuschwellen begännen

wenn wir wie riesige anaphylaktische Ballone würden

die hinaustrieben bis in die Stratosphäre

und das Wetter beeinflussten

und das Klima beeinflussten

beim Durchstoßen der Cumuluswolken

mit ganz viel Bienen in uns drin

die wir retten wollten

vor Glyphosat, Bayer und Monsanto

oder dem Winter

der kommen wird

mit Apis C200

und diesem Gedicht

mitten im Wald

summ summ summ summen wir

in uns drin

wie fliegende Honigpumpen vor dem Bienensterben

Joseph Beuys sei Dank alles wird gut

Ein Rettungshubschrauber kommt.

 

 

Alles über Wald 6:

Sex und Drugs in den Fichten – Refrain, bitte kommen!

 

Und ich erwache in diesem dröhnenden Rettungshubschrauber, der knapp über die Baumkronen des Nördlichen Auwaldes Richtung Uniklinik jagt. Und meine Kehle brennt und mein Herz rast  und außerdem habe ich einen tierischen Ständer, und ich weiß auch nicht warum. Und Natascha-Lou hält meine zitternde Hand. –„S’waren wohl doch  ‘n bisschen viel Pilze für’s erste Mal“ flüstert sie, und sie wischt mir mit einem Tuch den heißen Schweiß von der Stirn und dann beginnt sie mit leisen Obertönen in der Stimme eine alte schamanistische Waldheilungs- und Hochzeitshymne aus dem deutschen Neolithikum zu performen. Und die geht so:

 

Schlaf mit den letzten Koniferen

Bevor der Waldbrand kommt

Und wenn du denkst, dass sie es wären

Und wenn du denkst, dass sie es wären

Schlaf mit den letzten Koniferen

Bis auch du so‘n krasses Nadelkleid bekommst

 

Schlaf mit den Erlen in den Sümpfen

Und mit den Eichen still auf Strümpfen

Schlaf mit den letzten Welteneschen

Schlaf mit den Fichten –  schnell vergessen

Bevor der Waldbrand kommt

Bevor der Waldbrand kommt

 

Schlaf mit dem Weißdorn in den Büschen

Schlaf mit Robinien voll Hornissen

Schlaf von mir aus mit den Linden

Wo wir uns immer wieder finden

Bevor der Waldbrand kommt

Bevor der Waldbrand kommt

 

Schlaf mit den Amseln in den Hecken,

Holundern die dich niederstrecken

Und mit Robinien ohne Namen

Mit Farnkraut und mit Nesselsamen

Mit Pilzen voller Transzendenz

Bevor der Waldbrand kommt

Bevor der Waldbrand kommt

Lalaaa-lalala!

Live is Live!

 

 

Alles über Wald 7:

 

„Geh in den deutschen Wald“,

sagte Mark Twain

„und du kommst als ein Anderer zurück!“

und:

„Wald ist wie Lesebühne

Nur krasser!“

Danke für alles nochmal

Wald – du mein Hitzeschild dieses Sommers…

 

 

(foto: kurt mondaugen/oliver baglieri)

Lametta first! Eine Weihnachtsgeschichte

Weihnachtsbaum_Bloch

Es ist Mitte Dezember, das Jahr geht zu Ende und meine Therapeutin Natascha-Lou Salomé und ich liegen postkoital sediert auf der Behandlungscouch ihrer tiefenpsychologischen Praxis fünf Stockwerke hoch über der rotweinverglühenden Innenstadt, während ein Sicherheitshubschrauber der Innenministerkonferenz dröhnend über unseren Seelen kreist.

„Zeit für ein Jahresfazit, Kurt“, sagt Natascha-Lou plötzlich über das Dröhnen hinweg.

Ich schlucke irritiert. Was meint sie mit „Jahresfazit“? – Und worauf soll es sich beziehen? – Auf meine Therapiesitzungen? Oder auf unsere Beziehung im Ganzen? Oder auf die Weltlage im Allgemeinen. Letzteres erscheint mir am unverfänglichsten: „Ja, sage ich, die Scheiß-AFD-Atzen! – Jetzt haben sie es tatsächlich in den Bundestag geschafft! Und Donald Trump brüllt jetzt auch jeden Tag lauter im Weißen Haus ins Rote Telefon. Und in der Ukraine ist immer noch Stellungskrieg an der Ostfront. Schrecklich!“

„Ja, schrecklich“, murmelt Natascha-Lou. Und dann erklärt sie mir, dass das alles irgendwie rein natürliche Ursachen hätte, irgendwelche Sonnenprotuberanzen, die die kosmische Hintergrundstrahlung verändert hätten, die wiederum auf die Neuronen in unser Gehirnen hier unten auf der Erde einwirken würde, die dadurch neu formatiert würden und manche Menschen hielten das eben nicht aus und wählten dann AFD oder Amerika first oder Russland first oder Ukraine first oder Kalifatstaat first jedenfalls.

Und ich sage „Aha“, und dass ich da selber stattdessen mehr so eine kulturelle Erklärung für das bekloppte Wahlverhalten der Leute und die politische Eskalation in der Welt hätte. „Es hat alles eher etwas mit fehlendem Lametta zu tun als mit den Sternen!“ sage ich.

„Mit fehlendem Lametta?“, fragt Natascha-Lou entgeistert. „Wieso mit fehlendem Lametta?“

Und mit Hilfe meines leuchtenden Stirnchakras (ANSCHALTEN) hypnotisiere ich Natascha-Lou flugs in unsere gemeinsame Kindheit in den silbernen 70ern zurück, als in ganz Deutschland, in Ost wie in West, ja in der ganzen Welt, an Heiligabend alle Weihnachtsbäume noch voll krass mit tonnenweise Lametta behängt waren und silbern glänzten und funkelten. „Und weißt du noch, Natacha-Lou, wie dieses silberne Funkeln damals tief in uns drin dieses entspannte Ich-fühle-mich-zu-Hause-Heimatgefühl ausgelöst hat. Und das ging damals allen Menschen unter allen lamettaverhängten Weihnachtsbäumen auf  der ganzen Welt so, den Atheisten, Marxisten, Muslimen und Rohinjas und Buddhisten aller Länder genauso wie den Katholiken und Orthodoxen. Sogar bei den Russen und Ukrainern und Amerikanern hat das Lametta damals dieses tiefenentspannte emotionale Heimatgefühl verbreitet, diese Gefühl, dass man wenigstens einmal im Jahr als Mensch in dieser Welt wirklich willkommen und angenommen und metaphysisch echt at home ist in diesem silbernen Lametta-Leuchtgeflimmer unterm Tannenbaum.“

Und während der Sicherheitshubschrauber der Innenministerkonferenz immer noch dröhnend über unseren Seelen kreist (und die Innenminister in diesem Moment bestimmt gerade wieder eine Verschärfung der Heimatschutzgefühlsgesetze beschließen) und während Natascha Lou dazu verwirrt mit dem Kopf nickt und mich ungläubig anstarrt, fahre ich mit meinem lamentierenden Lametta-Monolog fort:

„Und erinnerst du dich, wie die Welt noch in Ordnung war damals in den 70ern dank Lametta Entspannungspolitik angesagt. Aber dann irgendwann schleichend in den 80ern hat das alles begonnen zu erodieren. Es gab immer weniger Lametta auf den Weihnachtsbäumen Jahr für Jahr, Natascha-Lou, und erinnerst du dich, dass sie deshalb immer weniger in unsere Seelen hineinleuchteten diese Weihnachtsbäume in Ost wie in West damals und dieses silbern funkelnde Heimatgefühl deshalb nach und nach verloren ging in uns und die innere Geborgenheit auch. Und dann kam die Wiedervereinigung und der Neoliberalismus und dann 9/11 und Afghanistan und der Irakkrieg und Hartz IV irgendwann und die soziale Kälte und Depression als Massenphänomen und andere psychiatrische Probleme, schau nur mich an, Natascha-Lou. Und das alles, weil das verdammte Lametta auf den Weihnachtsbäumen verschwunden ist! Und 2013 hat dann sogar – völlig unbeachtet von der Öffentlichkeit – auch noch die letzte große Produktionsfirma für Lametta in Deutschland, die legendäre Epsteiner Stanniolfabrik schließen müssen – wegen fehlender Nachfrage. Und, macht es jetzt Click bei dir, Natascha-Lou?“

Aber meine Therapeutin schüttelt nur verstört mit dem Kopf, während der Sicherheitshubschrauber der Innenministerkonferenz dröhnend über unsere unverstandenen Seelen kreist.

„Na, es sind die Nazis und Rechtspopulisten, die daraus ihren Profit gezogen haben, aus diesem allgemeinen Lametta- und Heimatgefühlsschwund in der ganzen Welt. Und es ist eben kein Zufall, dass genau 2013 die AFD gegründet wurde, und ich will nicht ausschließen, dass die bei der Werkschließung der Eppsteiner Stanniolfabrik nicht sogar ihre Finger mit im Spiel hatten. Wegen des fehlenden Lamettas brüllen die Leute jetzt überall Deutschland erwache! oder Amerika first! Oder sie zetteln gleich irgendwelche bekloppten Kriege an in der Ukraine oder in Syrien, um wieder dieses Heimatgefühl zurück zu bekommen. Fickt euch! Man muss da einfach mehr Lametta hinliefern, sage ich immer. Statt Bomben schmeißen lieber Stanniol runterrieseln lassen, tonnenweise, am besten das ganze Jahr lang, damit der Irrsinn aufhört!“ Ich merke, ich habe mich in Rage geredet

Natascha-Lou schaut mich entgeistert an: „Das meinst du doch jetzt nicht ernst, Kurt – das mit diese Lametta-Theorie des Heimatgefühls.“

„Doch!“, sage ich. „Doch!“ rufe ich, „Doch!“, schreie ich, „Das meine ich verdammt Ernst! Genau dafür hab ich doch nun mal verdammte 17 Semester ohne Bafög und doppelten Boden Philosophie und Lamettawissenschaften studiert damals in den 90ern, dass ich die Welt damit erklären kann und dass ich den Durchblick habe, dass ich endlich den verdammten Durchblick habe, was das ganze Seelenlametta in uns drin und den Weltgeist angeht. Und John Cage und Ernst Bloch hatten es auch voll mit den Lamettafäden damals im letzten Jahrhundert. 1955 zum Beispiel saß dieser kommunistische Philosoph Ernst Bloch am Heiligabend in seiner Wohnung in Leipzig-Schleußig am Schreibtisch, kurz bevor er in den Westen ging, und starrte auf seinen silbern leuchtenden Tannenbaum und hielt dabei wie im Tagtraum ein paar beim Schmücken übrig gebliebene Lamettafäden zwischen den Fingern seiner linken Hand. Und plötzlich schrieb er, wie von magischer Hand geführt, die berühmten letzten drei Sätze seines verrückten Hauptwerkes „Das Prinzip Hoffnung“ auf – DOPPELPUNKT:

„Der Mensch lebt noch überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor Erschaffung der Welt, als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfaßt und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen wie Lametta in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

„So, so“ murmelt Natascha-Lou und schaut mich an, als wäre ich jetzt ein gesellschaftliches Sicherheitsrisiko und die Hubschrauber würden nicht wegen irgendwelcher durchgeknallter  Innenminister, sondern wegen mir hier dröhnend über der Leipziger Innenstadt kreisen. Und sie ist aufgesprungen und hat sich ihren weißen Behandlungskittel übergeworfen, greift nach dem Telefon und will gerade die psychatrische Notfallambulanz anrufen, da skandiere ich:

„O.k. jetzt hilft nur noch Lametta oder Rock n Roll oder ein Weihnachtslied oder alles drei‘s  zusammen“, und ich springe in meine Klamotten, fingere die letzte Packung original Epsteiner Staniol-Lametta aus meiner Hosentasche, die ich heute morgen bei Ebay ersteigert habe, reiße sie auf und lasse sanft ein paar bedeutungsschwangere Stanniolfäden über Natascha-Lous Haar rieseln. Dann öffne ich das Fenster und kippe den Rest des Lamettas in den Abendhimmel, wo es durch den Wirbelsturm der dröhnenden Hubschrauberrotoren flugs über die ganze rotweinverglühende Leipziger Innenstadt verteilt wird und auf die irritierten Weihnachtsmarktbesucher runterrieselt, während ich den Ghettoblaster von Natascha-Lous Praxis anschalte und auf volle Lautstärke ins Fenster stelle, und wo jetzt dieser krasse Lametta-Weihnachtsbaum-Song zu laufen beginnt und den Hubschrauberkrach übertönt, und ich und Natascha-Lou und die gesamte Leipziger Innenstadt singen wie im Karaokerausch mit:

 

Lametta-Song  oder: Wir sind alle wie Weihnachtsbäume

 

Behängt alles mit Lametta,

mit Lametta wirkt alles echt

Wer Lametta trägt und silbern leuchtet

Ist emotional voll versorgt und im Recht

 

Behängt alles mit Lametta

Dann kriegt alles im Leben einen neuen Sinn

Behängt alles mit Lametta

Dann wird alles nur halb so schlimm

 

Zum Beispiel sind wir alle wie Weihnachtsbäume

Und wir leuchten und wir sterben vermutlich jung

aber mit ein paar Streifen Lametta

bleiben wir uns alle wenigstens in Erinnerung

 

Lametta macht uns locker

Wie andere Kokain

Lametta ist das neue Lametta

Und es glitzert schon in uns drin

 

Lametta ist der Weg ins wahre Leben

Wie für andere Anarchie

Lametta lässt dich beim Tanzen voll ausrasten

Denn es leitet elektrische Energie

 

Und auch Diskokugeln sind voll elektrisch

Und auch das hat seinen Grund

Denn auch Diskokugeln sind aus Lametta

Und sie leuchten uns mit Mondlicht gesund

 

Tut Lametta drauf wo andere verzweifeln

Lametta ist wie Therapie

Lametta vertritt echt Eure Interessen

Weil es ist eine Allegorie

 

Lametta ist die echte Alternative für Deutschland

Wer Lametta hat, hat nicht mehr AFD

Der hat selber genug Leuchtmittel an sich

Und mit Lametta tut selbst Weihnachten nicht weh.

 

Zwischen alles kann man Lamettafäden hängen

Was sich sonst in der Welt nicht verbinden lässt

Ich wünsche der Ost- und Westukraine

Voll das Lametta-Weihnachtsfest

 

Lametta connectet alles

Was sich sonst nicht connecten lässt.

Ich wünsche Nord- und Südkorea

Voll das Lametta-Weihnachtsfest

 

Lametta, Lametta, Lametta

Kein Wort davon ist zu viel

Lametta ist wie Tannenbaum-Karaoke

Lametta ist ein krasses Lebensgefühl

 

Refrain (ca. 12 mal wiederholen):

Und auch Liebe ist letztlich wie Lametta

Wir hängen uns alle gegenseitig damit voll

Denn wir sind alle wie Weihnachtbäume

Und Lametta ist unser Rock n Roll